1-2017
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, Ihnen hiermit die erste Ausgabe von Inklusion-Online in 2017 an die Hand geben zu k?nnen. Inzwischen l?sst sich, nach den Reaktionen auf den Ersten Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland und den seit Inkrafttreten der UN-BRK vielf?ltig erfolgten und kritisierten politischen und praktischen Umsetzungsma?nahmen, ein verst?rktes Bed?rfnis nach theoretischer Selbstvergewisserung in den Fachdebatten um eine inklusionsorientierte gesellschaftliche Entwicklung beobachten. Dies wollten wir zum Anlass nehmen, der vorliegenden Ausgabe einen entsprechenden theoretischen Schwerpunkt zu verleihen, der einige Schlaglichter auf aktuelle theoretische Reflexionen des Inklusionsbegriffs wirft.
Will der von der UN-BRK ausgehende Impuls mehr sein als ein unverbindlicher Aufruf zur selektiven Optimierung der Integration von Menschen mit Behinderungen im Bildungssystem, so scheint ein kritisches Nachdenken ?ber die gesellschaftstheoretischen Grundlagen und aktuellen Bedingungen sozialen Wandels, die den Inklusionsdiskurs ebenso rahmen wie die sich auf ihn berufenden Akteure von ihnen gepr?gt werden, unverzichtbar. Nicht nur dort, wo eine inklusive Praxis auf Skepsis oder gar Ablehnung st??t, sondern auch da, wo sie sich als ?L?sung? gesellschaftlicher ?Probleme? anbietet, scheint ein kritischer Blick auf die Repr?sentation der Problemstellung selbst, durchaus angeraten. Es l?sst sich kaum von dem Verdacht ablenken, dass unter den Bedingungen einer Abstiegsgesellschaft (Oliver Nachtwey) gar nicht die Absicht besteht, eine inklusionsorientierte Entwicklung zu verfolgen. Sind doch nicht so sehr Vorurteile gegen Menschen mit Behinderung das hervorstechendste Problem, auch nicht die ?nat?rlicherweise? begrenzten finanziellen Handlungsspielr?ume, sondern eine sich zunehmend unverbl?mte entsolidarisierende Gesellschaft. Soziale Distinktion avanciert zum bevorzugten Hebel der Selbstvergewisserung f?r diejenigen, die sich in einer Zone der Verwundbarkeit (Castel) wiederfinden und vermeintlich oder tats?chlich ihre Felle davon schwimmen sehen. ?Der arbeitsw?tige Selbstproduktivismus ist das Merkmal eines wettbewerblichen Selbst, das offenbar keine M?glichkeit sieht, im Umgang mit Unsicherheit, Abstiegsangst und intensivierter Markvergesellschaftung soziale und solidarische Wege zu finden? (Nachtwey, 166).
Eine ?berblickshafte Systematisierung von Theoriezug?ngen zu Inklusion in einem kritischen und politischen Verst?ndnis legt Mai-Anh Boger vor. Ihr Interesse gilt vornehmlich der (Re-)Politisierung eines Inklusionsbegriffs im Sinne von Differenzgerechtigkeit und Diskriminierungsfreiheit, der den Dialog mit ?Betroffenenbewegungen? praktiziert. Verbunden ist ihr Ansatz mit einem provokativen Angebot zur Reflexion der Selbstpositionierung in Sachen Inklusion und Diskriminierungs(forschung), das eine transdisziplin?re Perspektive auf positionierte Produktionen von Widerstandswissen er?ffnet. Grundlage ihrer ?berlegungen bildet ein Projekt, das die unterschiedlichen Theoriezug?nge zu Inklusion sammelt, analysiert und systematisiert. Mai-Anh Boger unterscheidet dabei Inklusion im Sinne von Empowerment, von Normalisierung und von Dekonstruktion. Dabei gelangt sie zu einer "trilemmatischen" Schlussfolgerung, was bedeutet, dass sich jeweils bestenfalls zwei dieser Positionen aufeinander beziehen lassen und die jeweils dritte einen theoretisch-logischen Widerspruch bildet. Diese Perspektive erlaubt nicht nur einen erhellenden Blick auf den Stand und Verlauf der Diskussion(en) um Inklusion, sondern er?ffnet auch (zumindest die Hoffnung) auf eine kritische Perspektive zuk?nftiger Diskriminierungsforschung, die sich einer differenzsensiblen Haltung in reflexiver Weise bedient.
Uwe Becker verdeutlicht in seinem Beitrag seine Rede von der Inklusionsl?ge als gesellschaftliche Verschleierung der systemimmanten Exklusionslogiken, die hier am Schulsystem und am Arbeitsmarkt beispielhaft aufgezeigt werden. Zun?chst wird die juristische Bedeutung der ratifizierten UN-BRK als Staatsverpflichtung, aus der nicht zwangsl?ufig individuelle Rechte abgeleitet werden k?nnen, skizziert. Dem entspricht die bisher hierzulande zu beobachtende sogenannte Inklusionspolitik, die sich in vielen F?llen auf einen am Primat weitgehender Kostenneutralit?t orientierten Appell an die Zivilgesellschaft beschr?nkt. Im Bereich Schule f?hrt diese Argumentationsstrategie u.a. dazu, den Besuch einer Regelschule als vollzogene Inklusion zu werten und vom geforderten Blick auf die Qualit?t des Regelschulbetriebs abzulenken. Ebenso erweist sich das Tripel-Mandat der Werkst?tten, bestehend aus Rehabilitation, Qualifizierungs- und Integrationsleistung als widerspr?chlich in Bezug auf die inklusionstheoretische Herausforderung. Sowohl die strukturellen Bedingungen des Schulsystems wie der institutionalisierte Umgang mit Menschen mit Behinderung in Bezug auf deren Integration in den Arbeitsmarkt erscheinen jedoch als systemimmanent logisch, insofern sie die einem flexiblen Kapitalismus angemessenen Voraussetzung zur Systemreproduktion sicherstellen. Damit aber erweisen sich Inklusionsrhetoriken als Verschleierungsstrategien im Dienste der Systemstabilisierung. Sie immunisieren sich sowohl gegen eine theoretische Reflexion der Grundlagen des gesellschaftlichen Verh?ltnisses von Inklusion/Exklusion als auch gegen eine politische Kritik, die darauf abzielt, jene Systeme von Grund auf zu ?ndern.
?Robert Schneider untersucht bildungsphilosophisch und -theoretisch die Bildsamkeit der Person in ihrer Bedeutung f?r eine inklusionsp?dagogische Theorie und Praxis. Unter Bezugnahme auf Sterns Kritischen Personalismus entwirft er ein Konzept von Bildsamkeit, das in Verbindung mit Anerkennung als Bedingung der M?glichkeit von personalem Handeln aufscheint und auf diese Weise progressives Potenzial zu entfalten vermag. Dabei zeigt sich zugleich auch das kritische Potenzial einer so begr?ndeten Inklusionsp?dagogik, insofern Wert- und Bewertungslogiken in Bildungsprozessen diesem Verst?ndnis zuwiderlaufen. Anerkennung erfordert die Mitwirkung der Person an ihrer Bestimmung im Sinne eines M?glichkeitsraumes, wodurch jeglicher allein von au?en auferlegter begrenzender Bestimmung von Bildung eine Absage erteilt ist. "Grenzen werden aber (...) dann als notwendig auszuweisen sein, wenn diese aus der inneren Entscheidung einer Person heraus zur Erm?glichung der Selbstbestimmung eines Du beitragen k?nnen".
Sven B?rmig pl?diert f?r eine Reflexion der Konzeptualisierung von Inklusion/Exklusion in Bezug auf Schule und Bildung in der wissenschaftstheoretischen Tradition kritischen Denkens. Er kn?pft zu diesem Zweck auf Basis der Rezeption (sonder)p?dagogischer und inklusionsp?dagogischer Literatur gedankliche Ansatzpunkte, die alles inklusionstheoretische Wissen (und Handeln) als notwendigerweise gesellschaftstheoretisch verortet und unhintergehbar reflexionsbed?rftig begreift. Orientiert an Adorno spricht er sich f?r eine theoretische Fassung eines Inklusionsverst?ndnisses aus, die sich auf Vorstellungen von Autonomie und M?ndigkeit beruft, was sich in letzter Konsequenz in der gesellschaftlichen Praxis erst noch erweisen muss.
Wir w?nschen Ihnen eine anregende Lekt?re.
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck?
f?r die Redaktion von Inklusion-Online