Archiv
-
1-2021
Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,
wir freuen uns an Ihrem Interesse an unserer Online-Zeitschrift f?r Inklusion, der 1. Ausgabe im Jahr 2021.
Immer noch pr?gen Gegenwart und Folgen der Pandemie viele der aktuellen Debatten um die Gestaltung einer zukunftsf?higen Politik, etwa mit Blick auf die Entwicklung sozialer Ungleichheiten in der Gesellschaft oder die coronabedingt offen zutage getretenen ungleichen Zug?nge zu Bildung. Nicht selten werden diese Debatten auch angstbesetzt gef?hrt. Unabh?ngig von den kurzfristig f?r uns alle sp?rbaren unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie kann dabei ? und das mag eine ihrer positiveren Effekte sein ? ein verst?rktes Interesse an der Diskussion von mittel- und langfristigen Strategien festgestellt werden, die sich an der Gestaltung einer lebenswerten Zukunft in einer offenen Gesellschaft orientieren wollen und bew?hren sollen. Die Thematik der ?Inklusion? steht dabei f?r die Frage, wie ?wir? angesichts der vielf?ltigen Differenzen und Verschiedenheiten in Zukunft zusammenleben k?nnen und wollen.
Adornos gesellschaftsutopisches Diktum, ?ohne Angst verschieden sein? zu k?nnen, ist da eine gut bekannte und h?ufig zitierte Formulierung, die Gabriel Zellmer Anlass bietet, aktuelle Inklusionsdiskurse auf ihren gesellschaftskritischen Anspruch hin zu durchleuchten. Er fragt kritisch nach, inwieweit in den oft vordergr?ndigen Bezugnahmen auf Adorno sich wirklich die Bereitschaft erkennen l?sst, die bestehenden Verh?ltnisse, in denen wir uns stets und unweigerlich in unserem Alltagshandeln wie auch professionell bewegen, in Frage stellen zu wollen. Stattdessen erweist sich die begriffliche Selbstbedienung aus dem Zitatenschatz kritischer Theorie allzu h?ufig als willf?hriges Werkzeug, praxisbezogene Probleme symptomatisch anzugehen. Der Beitrag erhebt den Anspruch, Kritik am durchgesetzten Begriffsverst?ndnis der Individualit?t zu ?ben, die Gesellschaftskritik der Kritischen Theorie ernst zu nehmen und deren Element des Kritischen f?r eine intervenierende Praxis stark zu machen. Dabei, so Gabriel Zellmer, kann gezeigt werden, ?inwiefern Individualit?t als Ideologie fungiert und welche Vorschl?ge die Kritische Theorie hat, um dahingehend einzugreifen?.
Andreas K?pfer, Katharina Papke und Yannick Zobel befassen sich mit dem Verh?ltnis von Ratgeberliteratur und p?dagogischem Handeln im Umgang mit Autismus, wie er sich im Kontext inklusionsorientierter Bildungsans?tze finden l?sst. Auff?llig ist, dass in inklusionsorientierten Diskursen zwar einerseits h?ufig auf die Vielfalt des Autismusspektrums verwiesen wird, andererseits die steigenden Diagnoseraten aber selten mit Zweifeln an deren Angemessenheit verbunden sind, gerade wenn es um p?dagogische oder didaktische Konsequenzen geht. Den Autor*innen geht es u.a. darum, die Herstellung und Reproduktion der Kategorie Autismus empirisch nachzuverfolgen. Dies geschieht auf Basis einer Situationsanalyse, die sich methodisch an Clarke (2012) anlehnt. Im Fokus stehen einerseits Ratgeberliteraturen f?r die p?dagogische, unterrichtliche und didaktische Praxis sowie andererseits Interviewdaten, die im BMBF-gef?rderten Forschungsprojekt ?StiEL? erhoben wurden. Erst eine kritische Rekonstruktion und Dekonstruktion der Begrifflichkeit ?Autismus? mit ihren ambivalenten und auch medizinisch gepr?gten Konnotationen erlaubt es, die p?dagogische und didaktische Wirkm?chtigkeit in der (Unterrichts)Praxis zu erkennen und inklusionstheoretisch fundiert zu hinterfragen.
Einem anderen Thema, das inklusionsorientierten Unterricht in p?dagogischer und didaktischer Hinsicht zunehmend kennzeichnet, widmet sich Hendrik Trescher in seinem Beitrag zu Leichter Sprache. Dabei, so seine Feststellung, gehen die inzwischen erkennbaren Benefits der Verwendung Leichter Sprache in der p?dagogischen Handlungspraxis gerade f?r Menschen, denen Lernschwierigkeiten attestiert wurden, einher mit einer theoretischen Ausarbeitung, die diesen Entwicklungen kaum standzuhalten vermag. Denn Leichte Sprache ? in der Praxis oft eher verfolgte ?Idee? als fundiertes Konzept ? birgt Ambivalenzen und ihre Verwendung stellt als solches noch keine Garantie f?r gelingende Integration oder gar die Inklusion von Menschen mit Lernschwierigkeiten dar. ?Eine zentrale Problematik liegt dabei darin, dass durch Leichte Sprache zwar Teilhabem?glichkeiten er?ffnet, gleichzeitig jedoch eingeschr?nkt werden k?nnen, indem die durch Leichte Sprache adressierten Personen als ?unterst?tzungsbed?rftig? und dadurch letztlich ?behindert? gelabelt werden.? Auf Basis bisher bestehender empirischer Erkenntnisse wird im vorliegenden Beitrag versucht, Perspektiven einer theoretischen Fundierung Leichter Sprache zu entwerfen.
Der Beitrag von Andrea Fischer-Tahir und Anke Langner wendet sich Fragen der beruflichen Inklusion von Menschen mit Sehsch?digung zu. Den gesellschaftstheoretischen Kontext bildet der Stand der Digitalisierung in einer kapitalistisch organisierten und strukturierten Welt, was sich etwa in Praktiken der Anpassung an eine sogenannte Industrie 4.0 zeigt. Dabei zeigt sich, dass jegliches Nachdenken ?ber berufliche Inklusion untrennbar mit einer gesellschaftstheoretisch informierten Analyse verbunden sein muss, will es sich nicht mit punktuellen Integrationserfolgen begn?gen. Der Beitrag fokussiert anhand einer Fallgeschichte die Erfahrung der Subjekte, die im Kontext von digitaler Transformation der Arbeitswelten ihre eigenen Kategorien von Arbeit, Gesundheit und Identit?t neu verhandeln. ?Dabei wird der Frage nachgegangen, inwiefern Disziplin als ein sich ?ber diverse Kontrolltechniken realisierendes Machtverh?ltnis in der beruflichen Inklusion wirksam wird und wie das von Exklusion bedrohte Subjekt reagiert, wenn Expert*innen sein Feld des m?glichen Handelns strukturieren?. Die Autorinnen interessiert, wie Bildungsangebote aus der Perspektive der Subjekte gedeutet werden, deren erkl?rtes Ziel es ist, Menschen mit Sehsch?digung an Arbeit teilhaben zu lassen. Diese Deutung enth?lt allemal ein ambivalentes Element ? d.h., selbst gelingende Inklusion f?hrt nicht zur Aufhebung von Exklusion. Ma?nahmen beruflicher Inklusion stehen daher durchaus im Dienst der ?Normalisierung einer digitalen Klassengesellschaf, zu deren Entstehung die neoliberale Governmentalit?t beigetragen hat?.
Christian Sch?ttler verfolgt den Ansatz Gemeinsamen Lernens am gemeinsamen Gegenstand im Mathematikunterricht. Untersucht wird, inwieweit mit dieser Methode unterschiedliche Lernvoraussetzungen von Sch?ler*innen f?r wechselseitige und einander unterst?tzende Lernprozesse fruchtbar gemacht werden k?nnen. Gemeinsames Lernen am gemeinsamen Gegenstand soll dabei wirkliche Kooperation f?rdern. Dazu werden anhand von exemplarischen Szenen kollektive Arbeitsprozesse diskutiert und sozial-kommunikative Interaktionsstrukturen rekonstruiert.
Abschlie?end werfen Julia Frohn und Vera Moser einen Blick auf die inklusionsorientierte Lehrkr?ftebildung. Auf Basis einer Befragung unter den Lehrkr?ftebildungszentren an Universit?ten in Deutschland, die im Sommersemester 2020 durchgef?hrt wurde,werden bildungspolitische Entwicklungen und der Stand der Anwendung der ?Gemeinsamen Empfehlung von Hochschulrektorenkonferenz und Kulturministerkonferenz? aus dem Jahr 2015 einer kritischen Betrachtung unterzogen. Die dort anvisierte und grundgelegte ?Lehrerbildung f?r eine Schule der Vielfalt? ist zwar als Anspruch artikuliert, inwiefern dies jedoch seither in einer ver?nderten Bildungslandschaft Niederschlag gefunden hat, ist eine empirische Frage. Wie sind die Steuerungsprozesse von Bildungssystemen in ihrem Zusammenwirken von institutionellen Rahmenbedingungen, praktisch handelnden Professionellen und den ihnen zur Verf?gung stehenden methodischen Angeboten zu beurteilen? Der im Beitrag skizzierte Ansatz hinterfragt die Annahme der Wirkm?chtigkeit linearer Steuerungsmechanismen und geht stattdessen von individuellen Handlungsbedingungen aus, in denen sich die verantwortlichen Akteure in ihren Vernetzungen und Verstrickungen bewegen. Auf dieser theoretischen Grundlage wurden als relevante Akteure f?r die Implementierung inklusionsbezogener Studieninhalte in die lehrerbildenden Studieng?nge die Zentren f?r Lehrkr?ftebildung befragt.Eine interessante und gewinnbringende Lekt?re w?nschen
Im Namen des RedaktionsteamsCarmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
-
4-2020
Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,
zum Abschluss dieses so ganz anders verlaufenden Jahres 2020 pr?sentieren wir Ihnen hiermit unsere 4. Ausgabe von Inklusion-Online ? ein Jahr, das u.a. auch die ressourcenbezogenen und aufmerksamkeits?konomischen Rahmenbedingungen f?r inklusionsorientierte Entwicklungen offensichtlich erschwert hat und umso deutlicher die Notwendigkeit zutage treten lie?, das bisher Erreichte zu verteidigen und den menschenrechtlichen Anspruch der UN-BRK auch und gerade im Bildungsbereich nicht bereits als eingel?st zu betrachten. Insofern sind es auf den ersten Blick nicht immer neue Fragen, die sich mit Blick auf ?Inklusion? stellen, aber viele der bekannten Fragen stellen sich m?glicherweise in neuer Weise, durch einen sozialen und gesellschaftlichen Wandel, der ?berkommene Priorit?ten ?berschreibt.
In dieser Ausgabe werden mit Blick auf Schule sowohl strukturell-institutionelle Bedingungen als auch Fragen der inklusionsorientierten professionellen Haltung sowie sp?rbare Tendenzen einer weiteren theoretischen Verengung des inklusiven Anspruchs kritisch in den Blick genommen. Ein besonderes schwerpunktm??iges Augenmerk liegt dabei auf den Bereichen der regulativen Rahmenbedingungen und deren Wirkung auf die Praxis. Es freut uns besonders, dass in dieser Ausgabe mit je einem Beitrag aus der Schweiz und aus ?sterreich der deutschsprachige Raum repr?sentiert ist und so Unterschiede wie m?gliche Parallelentwicklungen in den L?ndern nachverfolgt werden k?nnen.
Julia Gasterst?dt, Anna Kistner und Katja Adl-Amini fragen nach institutioneller Diskriminierung in und durch schulgesetzliche Regelungen in den 16 Bundesl?ndern und untersuchen in diesem Zusammenhang die Konsequenzen, die aus der Feststellungspraxis eines sonderp?dagogischen F?rderbedarfs resultieren. Auf Basis einer Dokumentenanalyse sowie mit Hilfe graphischer Darstellung werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Prozessverlauf der Feststellungsverfahren beschrieben. Die Argumentation kn?pft dabei an Debatten zur De-/Kategorisierung und inklusiven Diagnostik an. Kritisiert wird die Konstruktion des sonderp?dagogischen F?rderbedarfs als klassifizierende Zuweisungskategorie in den jeweiligen Schulgesetzen, ihre impliziten Zielsetzungen und differenzierten Inhalte sowie die unterschiedlichen Varianten der Feststellungsverfahren. Die gegebenen gesetzlichen Rahmenbedingungen fungieren in der Praxis jeweils als ?institutionalisierte M?glichkeitsstrukturen? in Bezug auf stigmatisierungsm?chtige Kategorisierungsoptionen und exkludierende Schullaufbahnentscheidungen.
Kris-Stephen Besa, Ernst Daniel R?hrig, Caroline Schmitt und Marc Tull befassen sich mit Einstellungen angehender Lehrkr?fte und Sozialp?dagog*innen zu Inklusion im Sinne des ?bereinkommens ?ber die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK). Der Beitrag setzt an der (Aus-)Bildung eines inklusiven professionellen Habitus in p?dagogischen und sozialen Studieng?ngen an, als grunds?tzlicher Voraussetzung f?r inklusionsorientierten Fortschritt. Ausgangs- und Ankn?pfungspunkt sind dabei die Einstellungen zu und Wissensbest?nde ?ber Inklusion von Studienanf?nger*innen in der Universit?ts- und Hochschulausbildung. Die empirische Basis des Beitrags bilden ausgew?hlte Befunde des quantitativ ausgerichteten Projekts ?Studierenden-Perspektiven auf Inklusion (SPiN)?, das 2019 an der Universit?t Trier durchgef?hrt wurde. Es wurden die Einstellungen zu Inklusion in der Schule von 460 Studienanf?nger*innen der Bachelorstudieng?nge ?Bildungswissenschaften? und ?Erziehungswissenschaft: Sozial- und Organisationsp?dagogik? erhoben. Dabei zeigte sich, dass Inklusion durchgehend als relevante Perspektive im Handlungsfeld der Schule erachtet wurde. Unterschiede gab es jedoch zwischen Lehramtsanw?rter*innen und Studierenden der Erziehungswissenschaften. Die Autor*innen sprechen sich f?r eine breitere empirische Basis sowie erg?nzende qualitative Studien aus, die geeignet w?ren, weitere Ansatzpunkte f?r die ?Vermittlung eines inklusiven professionellen Habitus in der Lehre? zu liefern.
Jonas Becker, Ann-Kathrin Arndt, Jessica M. L?ser, Michael Urban und Rolf Werning spezifizieren den Blick auf Einstellungen, Verhalten und professionelles Selbstverst?ndnis von Lehrkr?ften im Spannungsfeld von vorgegebenen Verfahren der Leistungsbewertung und der Sanktionierung. Angestrebte oder anzustrebende Inklusionsorientierung erscheint in dieser Hinsicht als Dilemma. Die vorliegende qualitative Studie fragt vor diesem Hintergrund danach, wie sich gymnasiale Lehrkr?fte mit ?Inklusionserfahrung? zu Prinzip und System der Leistungsbewertung positionieren. Konkurrenzhafte Leistungsan- und -abforderung stehen dabei in einem theoretischen und logischen Widerspruch zur Entfaltung von individuellen Leistungspotenzialen. In diesem Kontext werden fallbeispielhaft die Positionierungen zweier Lehrkr?fte zur Frage der (Nicht-)Versetzung und damit verbundenen ?Abschulung? eines Sch?lers im Kontext der Zeugniskonferenz am Schuljahresende kontrastiert. Im Sinne eines ableismustheoretischen Verst?ndnisses setzen sich die Autor*innen mit der unaufl?sbar erscheinenden wechselseitigen Verschr?nkung von einerseits inklusionsmotivierten kritischen Perspektiven auf F?higkeitserwartungen und andererseits der Reproduktion von F?higkeitserwartungen auseinander. Konstruktive Perspektiven aus diesem Dilemma k?nnten in Fortbildungen gewonnen werden, wie sie aus dem Verbundprojekt ReLink heraus entwickelt wurden. Sie zielen in besonderer Weise auf die Nutzung von Reflexionsr?umen.Caroline Sahli Lozano, Jakob Schnell und Kathrin Brandenberg fragen nach der Einsch?tzung der integrativen Ma?nahmen Nachteilsausgleiche (NAG) und reduzierte individuelle Lernziele (RILZ) aus der Perspektive von Schulleitungen der Oberstufe im Kanton Bern (Schweiz). Die Schulleitungen wurden zu wahrgenommenen Chancen und Risiken der beiden Ma?nahmen befragt. Dabei zeigte sich, dass der Nachteilsausgleich im Hinblick auf die individuelle Entwicklung der Lernenden grunds?tzlich positiver wahrgenommen wird als die Reduktion von Lernzielen. Die Schulleitungen sind sich der Dilemmata zwischen F?rdern, Etikettierung und Leistungsbeurteilung resp. in Bezug auf die Ungleichbehandlung einzelner Lernender im Kontext von Chancengleichheit stark bewusst.
Ewald Feyerer zeichnet ein Bild von der gegenw?rtigen Verfassung der Lehrer*innenfortbildung f?r eine inklusive Schule in ?sterreich. W?hrend die grunds?tzliche Bedeutung der Lehramtsausbildung f?r positive inklusionsorientierte Entwicklungen zumindest theoretisch erkannt ist, ger?t der Bereich der Fortbildung wissenschaftlich und empirisch gerade hinsichtlich ihrer kurz- und mittelfristigen Bedeutsamkeit vergleichsweise seltener in den Fokus der Aufmerksamkeit. Der vorliegende Artikel thematisiert empirisch und mit Beispielen, wie in ?sterreich inklusionsorientierte Lehrer*innenfortbildung, unter Einschluss aller an p?dagogischen Prozessen Beteiligten gestaltet ist. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Einbindung von Menschen mit Beeintr?chtigungen als Role-Models. Der Beitrag m?ndet in zukunftsweisende Empfehlungen f?r Bildungspolitik und Schulen in ?sterreich.
Den Abschluss bildet ein Beitrag von Hans Wocken, der sich kritisch mit der Beobachtung auseinandersetzt, dass auf die bestehende bildungspolitische Realit?t von Teilen der Inklusionsforschenden mit einer bildungstheoretischen Wendung reagiert wird, die den grundlegenden Anspruch, der mit Inklusion verbunden ist, weitgehend aush?hlt. Aus einer gesamtgesellschaftlichen, zumindest das Bildungssystem als Ganzes umfassenden, Herausforderung werden so partikular gedachte ?Inklusive Momente?. Dieses diskutierte Konstrukt verfehlt Hans Wocken zufolge wesentliche Aspekte, die den Kern inklusiver Bildungsprozesse ausmachen, wie die Dialektik der Wechselbeziehungen zwischen Teilhabe und Teilgabe, die Einbeziehung der Strukturebenen, in denen sich Bildungsprozesse vollziehen sowie das unhintergehbare Vertrauen in die Bildbarkeit aller Menschen durch konsequente individualisierte Zuwendung im Rahmen eines ziel- und abgebotsdifferenten Unterrichts.Eine aufschlussreiche und ergiebige Lekt?re w?nschen
f?r das Redaktionsteam
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck -
3-2020
Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,
hiermit d?rfen wir Ihnen die 3. Ausgabe im Jahr 2020 pr?sentieren. Sie umfasst ein thematisch breites Spektrum von forschungsorientierten Beitr?gen zu Aspekten inklusionsorientierter Entwicklungen in unterschiedlichen Lebensbereichen und lassen dabei u.a. auf die Bedeutung intersektionaler Blickerweiterungen schlie?en. In den Fokus genommen werden neben p?dagogisch-didaktischen Problemzusammenh?ngen auch Fragen von bildungspolitischer Tragweite, Fragen der politischen Bildung und spezifischer, in steter Ver?nderung begriffener empirischer Rahmenbedingungen, wie etwa die Entwicklung im Bereich Fluchtmigration oder die Auswirkungen der Pandemie.Corona hat ?ber das Fr?hjahr und Sommer des Jahres 2020 in Schulen einen Niederschlag gefunden, der in vielf?ltiger Weise die Voraussetzungen, Bedingungen, aber auch fachlichen Debatten um Inklusion tangiert. Was sich durch Schulschlie?ungen und erzwungene Umstellung auf digitalisierte Didaktik und Unterrichtsgestaltung an ver?nderten Grundbedingungen zeigt, entfaltet ambivalente Reaktionen und Zukunftserwartungen auf Seiten aller Beteiligten. Edvina Be?i? und Andrea Holzinger thematisieren den coronabedingten durch Fernunterrichtspraxis gekennzeichneten Digitalisierungsschub in 2020 an ?sterreichischen Schulen in der Steiermark. Grundlage der Untersuchung sind Befragungsergebnisse einer Online-Studie unter Lehrkr?ften mit digitaler Fernunterrichtserfahrung in ?Inklusionsklassen der Volksschule?. Die nicht als repr?sentativ einzustufenden Befunde weisen jedoch darauf hin, dass digitalisierter Fernunterricht positive wie negative Auswirkungen auf Inklusionsentwicklungen haben kann. Eine wesentliche Voraussetzung, um diesbez?gliche Potenziale nutzen zu k?nnen, liegt in einer breit geteilten Inklusionsmotivation aller Akteure, insbesondere auch in Bezug auf eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Schule und Eltern.
Christina Bastges-Liensh?ft, Barbara Maria Schmidt, Enjo Beckmann und Alfred Schabmann befassen sich mit einer Frage, die sich in Bildungskontexten, in denen nach wie vor bildungspolitisch ein schulisches Parallelsystem gepflegt und bisweilen auch ausgebaut wird, umso dringlicher stellt. Es geht um die Mechanismen, die dazu f?hren, dass Sch?ler*innen mit zugeschriebenem sonderp?dagogischen Unterst?tzungsbedarf immer noch aus allgemeinen Schulen in segegrierte Bildungsbereiche wechseln. Auf Basis von 38 leitfadengest?tzten Interviews mit Eltern von sog. ?Drop-Outs?, Elternvertretungen und F?rderschulleitungen sowie Lehrkr?ften werden die Gr?nde f?r den Schulwechsel in F?rderschulen mit unterschiedlichen F?rderschwerpunkten in NRW (Rheinland) analysiert. Die Ergebnisse verweisen auf die unzureichenden Ressourcen an allgemeinen Schulen, die einer gelingenden Beschulung entgegenstehen. Dar?ber hinaus lassen sich aber ebenso strukturelle Probleme sowie nach wie vor auch integrationsskeptische Einstellungen ausmachen, die den Boden daf?r bereiten, in einem Systemwechsel die L?sung zu sehen. Die Autor*innen kommen zu der inklusionspolitisch aufschlussreichen Folgerung, dass Schulwechsel au?er der Reihe nicht nur Systemwechsel bedeuten, sondern auch Ausdruck von Frustration sind und deutliche Ausgrenzungsrisiken nach sich ziehen.
Raphael Ko?mann geht es um die Skizzierung einer empirischen Unterrichtsforschung f?r inklusionsorientierte Didaktik in ihrer praktischen Anwendung. Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses muss verst?rkt der Zusammenhang zwischen inklusionsorientiert fundierter Lehre und den intersubjektiven Austauschprozessen zwischen Lehrkr?ften und Sch?ler*innen stehen. Was passiert im Rahmen dieser Austauschprozesse praktisch und haltungsm??ig ? und welche Auswirkungen auf die Pers?nlichkeitsentwicklung zieht inklusionsorientierter Unterricht durch didaktisches Handeln in dieser Hinsicht nach sich? Eine prominente Funktion erhalten dabei die wechselseitigen Adressierungen der Akteure in ihren m?glicherweise sich im Unterricht auch prozesshaft ver?ndernden Mustern. Unabh?ngig von einer sonderp?dagogischen oder explizit inklusiven Interpretation spricht sich der Autor f?r eine verst?rkte Hinwendung zur empirischen Untersuchung des Umgangs mit Leistungsdifferenzen in der Lehre aus, die im Sinne eines Forschungsprogramms auch zur reflexiven Evaluierung des fachlichen Handelns beitragen kann.
Einen Blick auf politische Bildung im inklusionsorientierten Unterricht werfen Jennifer Bloise und Michael Sch?n. Dies wirft die Frage auf, in welchem Wechselverh?ltnis politische Bildung und inklusionsorientierter Unterricht stehen (k?nnen oder sollen). Dem wird am Beispiel des Sozialkundeunterrichts nachgegangen. Der Beitrag entwickelt beispielhafte methodisch-didaktische Gestaltungsm?glichkeiten, die inklusionsorientierten Unterricht in der und f?r die politische Bildung gelingen lassen kann. Besondere Bedeutung erhalten hier Konzepte Leichter Sprache, da die Vermittlung politischer Bildung traditionell sehr sprachzentriert erfolgt und damit in einem grunds?tzlichen Spannungsverh?ltnis steht, insbesondere in Bezug auf Sch?ler*innen mit unterstellten oder diagnostizierten kognitiven Beeintr?chtigungen. Letztlich erweist sich das Ziel, Inklusion und politische Bildung miteinander zu vereinen, als eine notwendige Bedingung f?r gelingende Erziehung zur M?ndigkeit unter Ber?cksichtigung der Anwendung der UN-BRK im Sinne eines uneingeschr?nkten auch demokratisch verb?rgten Rechts auf (auch politische) Teilhabe.
Selbstbestimmtes Wohnen als Konsequenz eines menschenrechtlich begr?ndeten Rechts auf uneingeschr?nkte gesellschaftliche und soziale Teilhabe ist gerade f?r Menschen mit zugeschriebenen kognitiven Beeintr?chtigungen auch ?ber 10 Jahre nach Ratifizierung der UN-BRK noch alles andere als selbstverst?ndlich. Eine zentrale Bedeutung beim Versuch, dies Bedingungen f?r selbstbestimmtes Wohnen zu verbessern, individuell angepasste Formen zu finden, die zu Selbstbestimmung ermutigen und Perspektiven aufzeigen, stellen Beratungen dar, die von Menschen mit und ohne Behinderung geleistet werden. Die Qualit?t der Beratung h?ngt dabei nicht nur von der objektiven Sachlage oder individueller Fachqualifizierung ab, sondern ist mitentscheidend bei der Frage nach den Bedingungen einer gelingenden inklusionsorientierten Praxis. Henrike Kopmann stellt eine Studie vor, in der sechs Peer-Berater*innen mit einer sogenannten geistigen Beeintr?chtigung und drei als nicht behindert geltenden Berater*innen interviewt wurden. Dabei kommen nicht nur die spezifischen Herausforderungen im Zuge des Beratungsprozesses zur Sprache, sondern auch unterschiedliche subjektive Vorstellungen ?ber die Beratungsrolle selbst. Deutlich werden die Vorteile, die Team- und Tandem-Beratungen dann spielen, wenn dabei biografisches und professionelles Erfahrungswissen in den Beratungsprozess reflexiv einflie?en kann.
Annette Korntheuer untersucht am Beispiel der Entwicklung in M?nchen den Schnittpunkt Flucht (Migration) und Behinderung. Interessant ist dabei, dass hier eine in Ans?tzen intersektionale Perspektive kommunale Anwendung gefunden hat. Ihr sind zum einen empirische Erkenntnisse, zum anderen auch spezifische Bedarfslagen und eine Beurteilungsgrundlage der vorhandenen Angebotslandschaft zu verdanken. Zugleich wird aufgedeckt, dass die parallelen und gr??tenteils voneinander unabh?ngigen Systeme von Behindertenhilfe und Migrationsarbeit eine wesentliche strukturelle Bedingung f?r multiple Exklusionsmechanismen und -prozesse darstellt. Diese k?nnen nur mit einer konsequent intersektional ausgerichteten Perspektive wirksam angegangen werden. Der Beitrag arbeitet heraus, was hier noch erforderlich w?re, um eine solche Ausrichtung der kommunalen Handlungspraxis umzusetzen.
Die folgende, dieses Jahr abschlie?ende Ausgabe von Inklusion-Online wird die interdisziplin?r und intersektional ausgerichtete Perspektive auf aktuelle Entwicklung inklusionsorientierter Forschung fortsetzen.
Eine anregende und interessante Lekt?re w?nschen
f?r das Redaktionsteam
Carmen Dorrance und Clemens DannenbeckZuk?nftige Ausgaben:
Inklusion in beruflicher Bildung und Arbeitsmarkt
Abgabe f?r Beitr?ge: 4.10.2020 / Erscheinungstermin 2020 / 4Inklusion Interdisziplin?r
Abgabe f?r Beitr?ge: 15.01.2021 / Erscheinungstermin 2021 / 1Inklusions- und Exklusionsprozesse im Kontext der Corona-Pandemie
Abgabe f?r Beitr?ge: 31.03.2021 / Erscheinungstermin 2021 / 2 -
2-2020
Annette Textor, Meike Penkwitt & Nina Kolleck:
Editorial zur Ausgabe ?Anerkennung und Beziehungen. Didaktische Umsetzungen?Anerkennung in Beziehungen zu erfahren, gilt als Voraussetzung f?r die Identit?tsentwicklung. Dies schlie?t positive Selbstbez?ge ein (vgl. Honneth, 1990; 1992). Bereits klassische p?dagogische Schriften widmen sich Anerkennung in Beziehungen und verbinden diese Thematik beispielsweise mit Grundfragen zur gesellschaftlichen Integration und den p?dagogischen Selbstverh?ltnissen (vgl. Prengel, 2013).
W?hrend wir in Ausgabe 1/2020 der Inklusion Online den Schwerpunkt auf theoretische Entw?rfe zu Anerkennung in sozialen Beziehungen sowie zum wertsch?tzenden Umgang mit Beziehungen (insbesondere im schulischen Bereich) vorgestellt haben, widmen wir uns in dieser Ausgabe der didaktischen Umsetzung entsprechender Konzepte: Wie, wo und in welcher Form findet im schulischen Alltag im Rahmen von Inklusion Anerkennung in Beziehungen statt? Wie k?nnen diese Beziehungen so gestaltet werden, dass sie f?r die Sch?lerinnen und Sch?ler hilfreich und entwicklungsf?rderlich sind und m?glichst wenige Elemente von Missachtung enthalten?
In der Regel wird dabei unter dem Begriff ?Inklusion? ?die gleichrangige gesellschaftliche Partizipation aller Menschen einschlie?lich derjenigen mit Behinderungen unter Gew?hrung daf?r notwendiger Hilfen? (Kullmann u.a., 2014a, S. 90) verstanden. ?Inklusion? ist dabei, wie an dieser Stelle noch einmal betont werden soll, kein wissenschaftlich-beschreibender Begriff, sondern, ?hnlich wie z.B. auch der Begriff ?Nachhaltigkeit?, ein politisch gepr?gter (vgl. Balz, Benz & Kuhlmann, 2012) und damit auf eine normativ-ethische Zielsetzung bezogen. In die Wissenschaft wurde er als ein solcher bewusst eingef?hrt, um ein politisches Ziel ? die M?glichkeit f?r alle Sch?ler*innen, eine Regelschule zu besuchen ? benennen und gegen Versuche der Relativierung verteidigen zu k?nnen (z.B. bei Hinz, 2004; Wocken, 2010). Inzwischen ist der Bedeutungshorizont des Begriffs ?Inklusion? allerdings auch im deutschen Sprachraum zunehmend diffus geworden: ?hnlich wie bereits 2004 f?r den angels?chsischen Sprachraum festgestellt (vgl. Sander, 2004, S. 11; Hinz, 2004), reicht er vom Synonym f?r ?Integration? (englisch ?mainstreaming?) bis hin zu einer Verwendung f?r eine ?optimierte und erweiterte Integration? (vgl. Textor, 2015, S. 37; Wocken, 2010). Ein grunds?tzliches Merkmal des Inklusionsbegriffes besteht jedoch darin, alle f?r die gesellschaftliche Partizipation relevanten Heterogenit?tsdimensionen einzuschlie?en: In der Regel sind dies die Dimensionen Ability, Class, Race und Gender. Hinzu kommen die Wechselwirkungen, in denen diese Dimensionen miteinander stehen, die mittlerweile vielfach empirisch belegt sind (zur Wechselwirkung von Race und Class siehe z.B. Stanat, 2006, S. 112 f.; Konsortium Bildungsberichterstattung, 2006, S. 151 ff.; Stanat, Rauch & Segeritz, 2010, S. 222 ff.) und neuerdings unter dem Terminus ?Intersektionalit?t? diskutiert werden (vgl. u.a. Powell & Wagner, 2014, Wansing & Westphal, 2014 und Br?u & Schlickum, 2015).
Mit Intersektionalita?t beziehen wir uns hier auf das Zusammenwirken verschiedener Dimensionen von Ungleichheit und Diskriminierung. Ein prominent diskutiertes Beispiel w?re, wenn ein Migrationshintergrund mit der Kategorie ?gering qualifiziertes Elternhaus? und einer finanziell schwierigen Lage zusammentrifft (Kolleck, 2020).
Soll Schule inklusive Prozesse unterst?tzen, braucht sie nicht explizit auf den Unterricht mit Kindern mit unterschiedlichen F?rderschwerpunkten (oder auch dem Bezug zu unterschiedlichen Differenzlinien) einzugehen. Notwendig ist es jedoch, sowohl individuelle Differenzen als auch Prozesse von gruppenspezifischen Marginalisierungen im Auge zu behalten, ohne jedoch mit ihnen auch nur implizit eine Hierarchie zu begr?nden (vgl. Sander, 2004; L?ser & Werning, 2013, S. 22).
Mit Inklusion ist darum untrennbar eine Grundhaltung verbunden, die zum Ziel hat, niemanden aufgrund einer Gruppenzugeh?rigkeit zu diskriminieren. Die Umsetzung von Inklusion setzt dabei voraus, dass die beteiligten Akteure Unterschieden gegen?ber positiv ? oder jedenfalls zumindest nicht negativ ? eingestellt und in der Lage sind, entsprechend zu handeln. Dies gilt insbesondere f?r Lehrkr?fte im Unterricht (vgl. Textor, 2015; Kron, 2009), aber auch f?r andere Akteur*innen wie z.B. Schulleiter*innen (Kullmann u.a., 2014 b): Zentral f?r gelingenden inklusiven Unterricht ist es, durch die Art der Unterrichtsgestaltung und die Gestaltung der sozialen Beziehungen in Unterricht und Schulleben inklusive Prozesse in der Lerngruppe zu unterst?tzen. In der vorliegenden Ausgabe wird dies verdeutlicht.
Wie kann Organisations-, Unterrichts- oder Personalentwicklung in Schulen nun gezielt dazu beitragen, die Beziehungen zwischen Sch?ler*innen anzubahnen, zu f?rdern und zu stabilisieren? Wie k?nnen unterst?tzende, entwicklungsoffene Prozesse von Anerkennung und Identit?tsbildung gef?rdert werden?
Aus einer didaktischen Perspektive kann die Unterst?tzung der sozialen Beziehungen der Sch?ler*innen untereinander durch gemeinsames Lernen im Unterricht als Gegenpol zum stark individualisierten Lernen aufgefasst werden ? sei es durch die Arbeit an einem ?gemeinsamen Gegenstand? (vgl. Feuser, 1989; 2011), das Herauskristallisieren des ?Kerns der Sache? aus der Sicht des Kindes (ausgehend von ge?ffneten Lernsituationen) (vgl. Seitz, 2006) und durch das gezielte Arrangieren unterschiedlicher gemeinsamer Lernsituationen (Wocken, 1998) oder auch durch kooperative Lernformen (vgl. Boban & Hinz, 2007). ?Gemeinsamkeit? und ?Individualisierung? bilden dabei keineswegs zwingend unvereinbare Gegens?tze, vielmehr k?nnen diese beiden Pole dialektisch zusammengef?hrt werden: Individualisiertes Lernen kann am gemeinsamen Gegenstand stattfinden ? auch wenn dies in der Praxis nicht immer erreichbar und m?glicherweise auch nicht immer sinnvoll ist (vgl. Wocken, 1998; 2011). Eine zumindest zeitweise Arbeit am gemeinsamen Gegenstand wird in didaktischen Ans?tzen, die f?r inklusive Lerngruppen konzipiert sind, jedoch als zentral angesehen, um Interaktion zwischen den Sch?ler*innen zu f?rdern und damit zwei wesentliche Ziele von Bildung ? Mitbestimmungsf?higkeit und Solidarit?tsf?higkeit (Klafki, 1991/2007, u.a. S. 52) ? in den Blick zu nehmen. Somit fokussieren solche didaktischen Ans?tze die Beziehungen der Sch?ler*innen untereinander und versuchen sie zu unterst?tzen. Welche Prozesse von Anerkennung finden jedoch statt? Und wie kann Schule wertsch?tzende Beziehungen und entwicklungsoffene Anerkennungsprozesse f?rdern?
In dieser Ausgabe soll der Ertrag der unterschiedlichen Perspektiven zu Anerkennung in Beziehungen f?r eine Didaktik, die sich auf die Spezifika inklusiver Lerngruppen bezieht, entwickelt und reflektiert werden.
Die ersten beiden Aufs?tze der vorliegenden Ausgabe n?hern sich dem Thema Anerkennung und Beziehungen aus empirischer Perspektive:
In ihrem Beitrag ?Anerkennung und Beziehungen. Didaktische Umsetzungen? Anfragen ausgehend von theoretischen und empirischen Analysen zum Zusammenhang von Menschen- bzw. Sch?lerbild, Anerkennungshandeln und Lehrerhabitus? nimmt Kathrin te Poel die Spannungen von Didaktik und Beziehungen in den Blick. Auf der Basis theoretischer Analysen und empirischer Rekonstruktionen der Sch?ler*innenbilder von Lehramtsanw?rter*innen formuliert sie Konsequenzen und Ansatzpunkte f?r die (Aus)Bildung angehender Lehrkr?fte. Dabei zeigt die Autorin, dass Empathie seitens der Lehrer*innen als Voraussetzung f?r das Sich-Einlassen der Sch?ler*innen auf die p?dagogische Beziehung fungiert und als grundlegend f?r die p?dagogische Beziehung gewertet werden kann. Die Autorin zieht den Schluss, dass eine Sensibilisierung angehender Lehrkr?fte in Bezug auf p?dagogische Beziehungen zu den Sch?ler*innen der Methodenlehre vorausgehen m?sse. Demnach sollten bereits angehende Lehrkr?fte mit Herausforderungen der Gestaltung p?dagogischer Beziehungen konfrontiert werden. Konkret k?nne dies erreicht werden, indem bspw. im Kontext einer konfrontativen Fallarbeit dazu angeleitet wird, Situationen aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und sich in die Sichtweise der gegen?berstehenden Person hineinzuversetzen.
Nicole Freke stellt am Beispiel der Laborschule vor dem theoretischen Hintergrund des relationalen Ansatzes von Annedore Prengel (vgl. Prengel, 2013, 2020) vor, wie sowohl die r?umlichen als auch die zeitlichen Strukturen der ? erstaunlicherweise bisher nur wenig beforschten ? offenen Morgenzeit, also der Zeit zwischen dem Ankommen der Sch?lerinnen und Sch?ler und dem Unterrichtsbeginn z.B. im Morgenkreis, u.a. dazu beitragen, die Beziehungen zu den Sch?lerinnen und Sch?lern zu gestalten. Aus ihren ethnografischen Studien leitet sie vier Faktoren ab, die zu einer wertsch?tzenden, entwicklungsf?rderlichen Beziehungsgestaltung beitragen k?nnen: Eine zeitliche Strukturierung, die (auch) Freir?ume f?r Gespr?che und spontane gemeinsame T?tigkeiten l?sst, einen Raum, der flexibel ist und verschiedene M?glichkeiten bietet, eine Best?ndigkeit der p?dagogischen Beziehungen und das Wahrnehmen von und Eingehen auf die individuellen Bed?rfnisse der Kinder.
Die Aufs?tze von Kerstin Ziemen und Simone Seitz stellen jeweils ein Modell einer inklusiven Didaktik vor.
Kerstin Ziemen wendet sich in ihrem Beitrag mit dem Titel ?Die Mehrdimensionale Reflexive Didaktik ? ?ber Beziehung, Dialog und Emotion in der P?dagogik und Didaktik? den Widerspr?chen der Umsetzung von Inklusion in deutschen Schulsystemen zu.
Die Autorin argumentiert, dass die in vielen Schulen praktizierten Tendenzen der ?konomisierung, der N?tzlichkeits- und Effizienzsteigerungen sowie des Fokus auf Verwertbarkeit und Leistungskontrolle zu exkludierenden Strukturen f?hre. Zudem weist sie auf grundlegende Probleme der Vereinbarkeit dieser Zielsetzungen mit der W?rde aller Kinder und Jugendlichen hin. Als Vorschlag zur Reaktion auf dieses Dilemma schl?gt sie ein f?nfdimensionales Modell einer inklusiven P?dagogik und Didaktik vor[1], das die zurzeit dominierenden Widerspr?che in konkreten didaktisch-methodischen Planungen reflektiert, per se aber kein Kind und keine*n Jugendliche*n ausschlie?t und Elemente wie u.a. die sozialen Beziehungen, Wertsch?tzung und Respekt, Dialog, Emotionen, Verantwortung, Resonanz, Zuwendung und Kooperation in den Mittelpunkt stellt.
Vor dem Hintergrund einer Reflexion der aktuellen Lage des deutschen Schulsystems, die sie als ?zerrissen? charakterisiert, und einer pointierten Darstellung der bisherigen Diskussion um eine inklusive Didaktik sowie der empirischen Forschung zu Inklusion (fokussiert auf den Gesichtspunkt Anerkennung), schl?gt Simone Seitz ?eine Struktur dreier miteinander verschr?nkter Dimensionen des Unterrichts? als Grundlage f?r eine Reflexion der Unterrichtgestaltung vor. Diese biete zudem Ankn?pfungspunkte f?r die Professionalisierungsforschung: Bei der Dimension ?Anerkennung von Personalit?t? gehe es vor allem darum, ?jedes Kind in der spezifischen Lebenssituation zu ?sehen??, bei der ?Anerkennung von Sozialit?t? um den unterst?tzenden Umgang mit der Angewiesenheit der Kinder auf intersubjektive Anerkennung und soziale Zugeh?rigkeit und bei der ?Anerkennung von Komplexit?t? schlie?lich um ?Verkn?pfung komplexer Fragestellungen mit personal bedeutungsvollen Erfahrungen? der Kinder, anstatt die Lerninhalte als Lehrperson zu reduzieren, zu banalisieren und zu simplifizieren. ?Die Anerkennung von Kindern als Person und als auf intersubjektive Anerkennung angewiesene Subjekte der Bildung?, so Seitz, ?bedeute(t) somit, Weltdeutungsprozesse kommunikativ zu gestalten, ohne die generationale Verantwortung hierf?r zu negieren.? Abschlie?end hebt Seitz hervor, dass sie ihren Ansatz einer inklusiven Didaktik nicht etwa als eine weitere ?Spezialdidaktik? verstehe und es sich auch nicht um eine spezifische Methodensammlung handele. Vielmehr beinhalte ihr Vorschlag? im Sinne von Gruschkas ?Hefe f?r den ganzen Teig? ? transformatorisches Potential f?r das Schulsystem als Ganzes.
Lisa Rosen, Lucia Sehnbruch und B?nyamin Werker, die gemeinsam die wissenschaftliche Leitung der Heliosschulen (das sind die inklusiven Universit?tsschulen der Stadt K?ln[2]) innehaben, verstehen ihren Text als eine Spurensuche: Zun?chst arbeiten sie die Aspekte Anerkennung und Beziehungen, wie sie in der didaktischen Grundlegung der Heliosschule[3] zu finden sind, heraus. Diese basiert auf Kersten Reichs zehn Bausteinen einer inklusiven Didaktik sowie zehn Grundlinien, die Reich zusammen mit verschiedenen Akteur*innen aus Wissenschaft und p?dagogischer Praxis ? ausgehend von den Bausteinen ? erarbeitet hat. Ihren Fokus legen die Autor*innen dabei besonders auf die Bausteine ?Beziehungen und Teams? sowie ?Demokratische und chancengerechte Schule? und die Leitlinien ?Beziehungs- und Teamschule? und ?Partizipation, Demokratie und offene Schule?. Die didaktische Grundlegung der Heliosschule setzen sie im Anschluss in Beziehung zu dem Konzept der ?Neuen Autorit?t? von Haim Omer, zu dem die Schulleiter*innen der beiden Schulen 2019 eine gemeinsame Fortbildungsveranstaltung f?r beide Kollegien organisiert und durchgef?hrt haben. Rosen, Sehnbruch und Werker fragen nach ?bereinstimmungen, aber auch nach Differenzen oder sogar Widerspr?chen, der Konzeptionierung von Anerkennung und Beziehungen in den beiden zuvor vorgestellten Konzepten (von Reich und Omer). Den Abschluss des Artikels bilden ?berlegungen zu m?glichen weiteren Forschungsvorhaben, die an die dargestellten Befunde anschlie?en k?nnten.
Der letzte Aufsatz in diesem Heft wendet sich einer fachdidaktischen Perspektive zu:
Das Potenzial der literarischen und sprachlichen Bildung f?r die Pers?nlichkeitsbildung im Kontext von Inklusion wird in dem Artikel von Anna-Lena Demi und Petra Anders zu ?Anerkennung im Kontext eines symmedialen inklusiven Deutschunterrichts? aufgegriffen. Ausgehend von der Annahme, dass Anerkennung als Voraussetzung f?r eine positive Pers?nlichkeitsbildung fungiert, wird der Beitrag eines vielf?ltigen Medieneinsatzes sowie barrierefreier Zug?nge zu Lerngegenst?nden thematisiert und in den Kontext von Diversit?t und der F?rderung individueller Kompetenzen gestellt. Die Autorinnen argumentieren, dass eine mediendidaktische Sensibilisierung f?r inklusive Konzepte sowie f?r den bewussten Einsatz von Medien und die barrierefreie Gestaltung von Lerngegenst?nden in die Ausbildung angehender Lehrkr?fte mit einflie?en sollte, u.a. um der Individuation, Sozialisation und Enkulturation der Sch?ler*innen in einer inklusiven Gesellschaft gerecht zu werden.
Insgesamt wenden sich die in diesem Heft pr?sentierten Beitr?ge einer hoch relevanten Thematik zu, die in der erziehungs- und bildungswissenschaftlichen Forschung bisher zu wenig Aufmerksamkeit erlangte. Die Autor*innen beleuchten unterschiedliche didaktische Aspekte der Anerkennung in sozialen Beziehungen und pr?sentieren Ergebnisse innovativer methodischer Designs. Sie tragen damit zu einer grundlegenden Weiterentwicklung der fachwissenschaftlichen Forschung bei und bringen die Diskussion um Anerkennung in sozialen Beziehungen im p?dagogischen Kontext ein gutes St?ckchen voran.
An dieser Stelle danken wir den Autor*innen, die mit ihren Artikeln zum Gelingen dieser Ausgabe beigetragen haben. Die vorliegende Ausgabe hat dar?ber hinaus durch die wertvollen (anonymen) Anregungen und Hinweise der Peer-Gutachter*innen an Qualit?t gewonnen. Ihr Engagement wissen wir ebenfalls sehr zu sch?tzen. Danken m?chten wir schlie?lich dem Team der Zeitschrift Inklusion Online, das diese Ausgabe erm?glicht hat.
Zuk?nftige Ausgaben:
Inklusion in beruflicher Bildung und Arbeitsmarkt
Abgabe f?r Beitr?ge: 4.10.2020 / Erscheinungstermin 2020 / 4Inklusion Interdisziplin?r
Abgabe f?r Beitr?ge: 15.01.2021 / Erscheinungstermin 2021 / 1Inklusions- und Exklusionsprozesse im Kontext der Corona-Pandemie
Abgabe f?r Beitr?ge: 31.03.2021 / Erscheinungstermin 2021 / 2Balz, H.-J., Benz, B. & Kuhlmann, C. (2012). (Soziale) Inklusion ? Zug?nge und paradigmatische Differenzen. In H.-J. Balz, B. Benz & C. Kuhlmann (Hrsg.), Soziale Inklusion. Grundlagen, Strategien und Projekte in der sozialen Arbeit (S. 1?9). Wiesbaden: Springer.
Boban, I. & Hinz, A. (2007). Orchestrating Learning!?! Der Index f?r Inklusion fragt ? Kooperatives Lernen hat Antworten. In I. Demmer-Dieckmann & A. Textor (Hrsg.), Integrationsforschung und Bildungspolitik im Dialog (S. 117?125). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Br?u, K. & Schlickum C. (Hrsg.) (2015). Soziale Konstruktionen in Schule und Unterricht. Zu den Kategorien Leistung, Migration, Geschlecht, Behinderung, Soziale Herkunft und deren Interdependenzen. Opladen, Berlin, Toronto.
Feuser, G. (1989). Allgemeine integrative P?dagogik und entwicklungslogische Didaktik. Behindertenp?dagogik, 28 (1), 4?48.
Feuser, G. (2011). Entwicklungslogische Didaktik. In A. Kaiser, D. Schmetz, P. Wachtel & B. Werner (Hrsg.), Didaktik und Unterricht (S. 86?100). Stuttgart: Kohlhammer.
Hinz, A. (2004). Vom sonderp?dagogischen Verst?ndnis der Integration zum integrationsp?dagogischen Verst?ndnis der Inklusion!? In I. Schnell & A. Sander (Hrsg.), Inklusive P?dagogik (S. 41?74). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Honneth, A. (1990). Integrit?t und Missachtung. Grundmotive einer Moral der Anerkennung. Merkur. Deutsche Zeitschrift f?r europ?isches Denken, 44 (7), 1043?1045.
Honneth, A. (1992). Widerstand durch Anerkennung. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Klafki, W. (1991/2007). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgem??e Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik (6. Aufl.). Weinheim: Beltz.
Kolleck, N. (2020). Was uns zusammenh?lt: Wie erreichen wir mehr Teilhabechancen in unseren Schulen? Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung.
Konsortium Bildungsberichterstattung (2006). Bildung in Deutschland. Ein indikatorengest?tzter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Zugriff am 09.10.2014. Verf?gbar unter http://www.bildungsbericht.de/daten/gesamtbericht.pdf.
Kron, M. (2009). Gemeinsame Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung im Elementarbereich. Theorieans?tze und Praxiserfahrungen. In H. Eberwein & S. Knauer (Hrsg)., Integrationsp?dagogik. Kinder mit und ohne Beeintr?chtigung lernen gemeinsam. Ein Handbuch (7. Aufl.) (S. 178?190). Weinheim: Beltz.
Kullmann, H., L?tje-Klose, B., & Textor, A. (2014a). Allgemeine Didaktik f?r inklusive Lerngruppen ? f?nf Leitprinzipien als Grundlage eines Bielefelder Ansatzes der inklusiven Didaktik. In B. Amrhein & M. Dziak-Mahler (Hrsg.), Fachdidaktik inklusiv ? Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien f?r den Umgang mit Vielfalt in der Schule (S. 89?107). M?nster: Waxmann.
Kullmann, H., L?tje-Klose, B., Textor, A., Berard, J. & Schitow, K. (2014b). Inklusiver Unterricht ? (Auch) eine Frage der Einstellung! Eine Interviewstudie ?ber Einstellungen und Bereitschaften von Lehrkr?ften und Schulleitungen zur Inklusion. Schulp?dagogik heute, 5 (10), 1?14.
L?ser, J.M. & Werning, R. (2013). Inklusion aus internationaler Perspektive ? ein Forschungs?berblick. Zeitschrift f?r Grundschulforschung, 6 (1), 21?33.
Powell, J. J. W. & Wagner, S. J. (2014). An der Schnittstelle von Ethnie und Behinderung benachteiligt. Jugendliche mit Migrationshintergrund an deutschen Sonderschulen weiterhin ?berrepr?sentiert. In: Wansing, G. & Westphal, M. (Hrsg.), Behinderung und Migration. Inklusion, Diversit?t, Intersektionalit?t (S. 177?199). Wiesbaden: Springer VS.
Prengel, A. (2020). Zur Qualit?t p?dagogischer Beziehungen ? Theoretische Zug?nge und professionelle Kodifizierungen einer inklusionsrelevanten Handlungsebene. Zeitschrift f?r Inklusion (1). Verf?gbar unter https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/556
Prengel, A. (2013). P?dagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Opladen: Barbara Budrich.
Sander, A. (2004). Inklusive P?dagogik verwirklichen ? zur Begr?ndung des Themas. In I. Schnell & A. Sander (Hrsg.), Inklusive P?dagogik (S. 11?22). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Seitz, S. (2006). Inklusive Didaktik: Die Frage nach dem ?Kern der Sache?.Zeitschrift f?r Inklusion, 1 (1). Verf?gbar unter https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/184 [20.06.2018]
Stanat, P. (2006). Disparit?ten im schulischen Erfolg: Forschungsstand zur Rolle des Migrationshintergrunds. Unterrichtswissenschaft, 36 (2), 98?124.
Stanat, P., Rauch, D. & Segeritz, M. (2010). Sch?lerinnen und Sch?ler mit Migrationshintergrund. In E. Klieme, C. Artelt, J. Hartig, N. Jude, O. K?ller, M. Prenzel, W. Schneider & P. Stanat (Hrsg.), PISA 2009. Bilanz nach einem Jahrzehnt (S. 201?230). M?nster: Waxmann.
Textor, A. (2015). Gemeinsam Lernen. Theoretische Grundlagen und didaktische Leitlinien f?r einen Inklusion unterst?tzenden Unterricht. In C. Fischer (Hrsg.), (Keine) Angst vor Inklusion. Herausforderungen und Chancen gemeinsamen Lernens in der Schule (S. 37?59). M?nster/New York: Waxmann.
Wansing, G. & Westphal, M. (2014). Behinderung und Migration Inklusion, Diversit?t, Intersektionalit?t. Wiesbaden: Springer VS.
Wocken, H. (1998). Gemeinsame Lernsituationen. Eine Skizze zur Theorie des gemeinsamen Unterrichts. In A. Hildeschmidt & I. Schnell (Hrsg.), Integrationsp?dagogik (S. 37?52). Weinheim: Juventa.
Wocken, H. (2010). Integration & Inklusion. Ein Versuch, die Integration vor der Abwertung und die Inklusion vor Tr?umereien zu bewahren. In A. Stein, S. Krach & I. Niedieck (Hrsg.), Integration und Inklusion auf dem Weg ins Gemeinwesen. M?glichkeitsr?ume und Perspektiven (S. 204?234). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Ziemen, K (2018): Didaktik und Inklusion. G?ttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.
[1] Eine ausf?hrliche Darstellung des Modells bietet Kapitel 4 ?Mehrdimensionale reflexive Didaktik? in Ziemen 2018.
[2] Der Plural verweist darauf, dass dieser Name eine Grund- und eine Gesamtschule zusammenfasst, die zwar durch ein gemeinsames Konzept verbunden sind, sich aber bis zur Fertigstellung des Schulhauses noch in zwei Geb?uden befinden, die zudem in unterschiedlichen Stadtteilen liegen.
[3] Den Singular verwenden die Autor*innen, wenn sie sich auf das verbindende Konzept und nicht die p?dagogische Praxis beider Schulen beziehen, die urspr?nglich als eine Schule des gemeinsamen Lernens geplant war.
-
1-2020
Meike Penkwitt, Annette Textor, Sina-Mareen K?hler:
Editorial zur Ausgabe ?Anerkennung in Beziehungen ? Didaktische Perspektiven?"Handlungsf?hige Subjekte verdanken der Erfahrung der wechselseitigen Anerkennung die M?glichkeit, eine positive Selbstbeziehung auszubilden; ihr praktisches Ich ist, weil es nur aus der Perspektive der zustimmenden Reaktionspartner sich selber zu vertrauen und zu achten lernt, auf intersubjektive Beziehungen angewiesen, in denen es Anerkennung zu erfahren vermag." (Honneth 1990, 1044.)
"Das Selbst existiert nur in seinen und durch seine Beziehungen zu den anderen." (Todorov 1995, 170)Anerkennung in Beziehungen zu erfahren, gilt als Voraussetzung f?r die gelungene Identit?tsentwicklung inklusive positiver Selbstbez?ge (vgl. u.a. Honneth 1990; 1992). Bereits klassische p?dagogische Schriften widmen sich dieser Thematik und verbinden diese beispielsweise mit Grundfragen zur gesellschaftlichen Integration und den p?dagogischen Selbstverh?ltnissen (vgl. Prengel 2013b).
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Auseinandersetzung mit schulischer Inklusion und bezogen auf diese werden anerkennungstheoretische Ans?tze und damit verbundene Fragestellungen in den Erziehungswissenschaften seit fast zwei Jahrzehnten verst?rkt aufgegriffen und weiterentwickelt (z.B. von Katzenbach 2010 oder Prengel 2013b). Einen zentralen Bezugspunkt in dieser Debatte stellt die Anerkennungstheorie Honneths dar, die u.a. unter R?ckgriff auf das Fr?hwerk Hegels, den symbolischen Interaktionismus Meads und die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie Winnicots reziproke Akte der Anerkennung als Voraussetzung einer gelungenen Identit?tsentwicklung in den Fokus r?ckt. Daneben k?nnen auch gesellschaftliche Dynamiken anerkennungstheoretisch erkl?rt werden, n?mlich als ?K?mpfe? um Anerkennung, die auf Erfahrungen der Missachtung gr?nden (vgl. Honneth, 1990, 1052 ff.).
Honneth unterscheidet drei Formen von Anerkennung und darauf bezogen auch drei Missachtungsformen, denen im Laufe der Sozialisation Bedeutung zukommt: zun?chst die emotionale Zuwendung, affektive Zustimmung oder auch 'Liebe' im Rahmen von Prim?rbeziehungen (Familie; sp?ter z.B. aber auch Freundschaften und Paarbeziehungen) (1); kognitive Achtung im Rahmen von Rechtsverh?ltnissen (2) und schlie?lich Solidarit?t oder auch soziale Wertsch?tzung, insbesondere in Bezug auf individuelle Beitr?ge zum Gemeinwohl einer Wertegemeinschaft (3) (vgl. Honneth 1990, 1992). Mit diesen drei Anerkennungsweisen korrespondieren wie folgt spezifische Missachtungsformen: mit der emotionalen Zuwendung Misshandlungen, Vergewaltigung und Folter, mit der kognitiven Achtung Entrechtung und Ausschlie?ung und mit der sozialen Wertsch?tzung schlie?lich Entw?rdigung und Beleidigung. Im Laufe der Individuation resultieren aus den unterschiedlichen Formen von Anerkennung zudem drei unterschiedliche Formen praktischer Selbstbeziehung bzw. positiver Selbstverh?ltnisse: Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstsch?tzung bzw. Selbstverwirklichung.
Daneben gibt es ? u.a. im Anschluss an Butler ? Entw?rfe, in denen Anerkennung nicht als affirmativ-bejahend und damit unterst?tzend verstanden wird, sondern umfassender als eine Adressierung im Sinne von Althussers Konzept der Anrufung/Interpellation. Da diese Adressierung unter Bezugnahme auf normative Diskurse erfolgt (Balzer/Ricken 2010), werden in solchen Ans?tzen auch negative, weil festschreibende (oder auch 'verdinglichende') Aspekte eines 'Anerkennens als' herausgearbeitet (vgl. z.B. Mecheril 2005, Bedorf 2010 und Balzer 2014). Andere Ans?tze stellen diesem festschreibenden 'Anerkennen als' ein entwicklungsoffeneres Anerkennen gegen?ber, das so z.B. die im Laufe des Heranwachsens von Kindern jeweils erst noch zu erreichende Autonomie antizipiert (Stojanov 2006; 2011). Unter dem Titel Verkennende Anerkennung weist Bedorf (im Anschluss an Derrida und L?vinas) dar?ber hinaus darauf hin, dass jedes Anerkennen zugleich auch schon ein Verkennen impliziere, indem es den Anderen nie wirklich 'angemessen' in seiner Andersheit entsprechen k?nne.
Humanistische Ans?tze arbeiten demgegen?ber weniger mit dem Begriff 'Anerkennung', es lassen sich aber Bezugspunkte und Parallelen finden: So definiert beispielsweise Rogers 'Akzeptanz' als eine nicht an Bedingungen gekn?pfte positive Wertsch?tzung ? d.h. eine spezifische Form von Anerkennung ? in Verbindung mit Empathie und Kongruenz als eine wesentliche Grundlage insbesondere professioneller Beziehungen (z.B. Rogers, 1989, S. 35; Rogers, 1994, S. 481f., Tausch und Tausch, 1998, S. 118 ff., vgl. auch Graf und Iwers in dieser Ausgabe).
'Anerkennung' stellt, so wird deutlich, ?kein[en] monolithische[n] Begriff" (Bedorf 2010, 97) dar. Einen Einblick in die Bedeutungsvielfalt des Anerkennungsbegriffs gibt Bedorf in seiner Studie Verkennende Anerkennung (2010) oder auch Balzer in Spuren der Anerkennung (2014). Unterschiedliche Einteilungsversuche wurden vorgeschlagen, um die vielf?ltigen und teilweise auch widerspr?chlichen Anerkennungsans?tze zu systematisieren. Einen solchen stellt die Unterteilung in ontologische, in deskriptive (d.h. lediglich beschreibende) und in ethische Herangehensweisen (Ik?heimo 2009) dar. Diese ist jedoch nicht kritiklos geblieben (Balzer 2014, 577): Zwar ist z.B. Honneths Anerkennungsansatz insofern (prim?r) als ethisch zu betrachten, als dass Honneth ?hnlich wie auch Taylor Anerkennung als ?'etwas' auffasst, das das Leben menschlicher Wesen verbessert" (Balzer 2014, 576). Gleichzeitig ist er aber auch ontologisch, denn zugrunde liegt dieser Auffassung der Entwurf eines ontologischen Modells, in dem die reziproke Anerkennung als eine allgemeine gesellschaftliche Infrastruktur beschrieben wird, die im Laufe der Individuation die Entwicklung positiver Selbstbeziehungen erm?gliche (ebd.). ?hnliche Schwierigkeiten ergeben sich f?r die Einordnung des Ansatzes von Butler, die ausgehend von ihrer ontologischen Beschreibung der Subjektivierung durch Adressierung und Re-Adressierung durchaus auch ethische Argumentationen aus differenz- und alterit?tstheoretischer Perspektive thematisiert (vgl. Balzer 2014, 577). Als tragf?higer erscheint demgegen?ber eine Unterscheidung, die auf Bedorf zur?ckgeht: Er unterscheidet zwischen intersubjektiven, interkulturellen und subjektivierenden Anerkennungsans?tzen. Erstere fokussieren im Sinne von Honneth auf die Herausbildung personeller Integrit?t durch die soziale Infrastruktur wechselseitiger Anerkennung. Als interkulturell bezeichnet Bedorf Ans?tze, in denen es, wie z.B. bei Taylor und Fanon, um das Miteinander unterschiedlicher Kulturen (und den Erhalt deren jeweiliger Authentizit?t) geht. Subjektivierende Anerkennungsans?tze, wie sie z.B. Butler (vgl. u.a. Butler 1993/1997) und im Anschluss an diese u.a. Balzer und Ricken (Balzer/Ricken 2010) vertreten, gehen davon aus, dass nicht bereits bestehende Subjekte sich gegenseitig (oder auch einseitig) Anerkennung entgegenbringen oder auch nicht, sondern, dass die Subjekte durch einen lediglich adressierenden (und nicht unbedingt wertsch?tzenden) Akt der Anerkennung ?berhaupt erst konstituiert werden. In diesem Sinne unterscheidet Balzer eine konstativ best?tigende von einer performativ stiftenden Seite von Anerkennung (Balzer 2014, 589).
Im Bereich der P?dagogik lassen sich zudem grunds?tzlich zwei unterschiedliche Arten von Ans?tzen unterscheiden, in denen das Konzept der Anerkennung im Zentrum steht: Im Kontext unterschiedlicher Differenzp?dagogiken spielt Anerkennung insofern eine zentrale Rolle, als dass die (jeweils) Anderen nicht nur als gleichberechtigt geachtet werden, sondern auch in ihrer jeweiligen Andersheit anerkannt und darum nicht zur Angleichung verpflichtet, also nicht normalisiert werden. Einen solchen Zugang hat z.B. Prengel (1993a) in ihrer Auseinandersetzung mit der integrativen, der feministischen und der interkulturellen P?dagogik herausgearbeitet. In der P?dagogik der Anerkennung (u.a. Scherr und andere) geht es hingegen darum, dass Anerkennung in allen p?dagogischen Kontexten und Beziehungen eine tragende Rolle zugesprochen bekommt (vgl. u.a. Hafeneger, Henkenborg, Scherr 2013).
Als auch interdisziplin?rer g?ltiger Minimalkonsens l?sst sich herausarbeiten, dass Anerkennung ?als etwas thematisiert und verstanden wird, das mit der Genese und/oder der Aufrechterhaltung von Subjektivit?t und Identit?t eng verbunden und f?r diese unverzichtbar ist? (Balzer 2014, 276), als ein Akt, ?... in dem eine/ein Adressierende/r einer/einem Anderen 'anzeigt' oder 'spiegelt', wer diese/r 'in seinen Augen' ? im Verh?ltnis zu sich und/oder Anderen und/oder Normen sowie zu Anderem (einer Sache) ? 'ist, so dass Anerkennung auch als eine (evaluativ spezifische oder unspezifische) 'Bedeutungsanzeige' qua Adressierung zu begreifen w?re? (Balzer 2014, 584). Grundlegend ist also, dass Menschen in ihrer Identit?t und Subjektivit?t nicht als voneinander unabh?ngig oder auch autonom gedacht werden.
Eine solche Sichtweise, ?die das Selbst als ein in einem Netz von Beziehungen mit anderen eingebettetes Wesen begreift" (Benhabib 1989, 456), wurde interessanterweise auch von feministischen Theoretiker*innen der sp?ten 1980er- und fr?hen 1990er-Jahre vertreten. Im Rahmen der Debatte um unterschiedliche Ans?tze einer feministischen Ethik im Anschluss an Carol Gilligan (Gilligan 1982/1988) setzten diese der 'patriarchalen' Ethik der Gerechtigkeit bzw. der Rechte eine 'feministische' Ethik der F?rsorge und Verantwortung entgegen (Nagl-Docekal und Pauer Studer 1993). Kritisierte wurde dabei insbesondere eine Vorstellung vom Menschen als prim?r autonom und beziehungslos, wie sie insbesondere f?r herk?mmliche Sozialvertragstheorien charakteristisch ist. Die Kritikerinnen wendeten sich gegen die Vorstellung, dass Menschen erst durch einen freiwilligen Abschluss eines Gesellschaftsvertrages, der den 'Krieg aller gegen alle' (Hobbes ? 1588-1679) verhindern solle, miteinander in Beziehung tr?ten. Sehr bildlich veranschaulicht Benhabib die Absurdit?t dieser Vorstellung ausgehend von einer (ebenfalls von Hobbes stammenden) Beschreibung des 'Naturzustandes', der dem Abschluss des Gesellschaftsvertrages vorausgehe. Sie zitiert Hobbes: "Betrachten wir die Menschen (men) ... als ob sie eben jetzt aus der Erde gesprie?t und gleich Pilzen pl?tzlich ohne irgendeine Beziehung zueinander gereift w?ren." (Hobbes 1966, 109, zit, nach Benhabib 1989, 464) Dieser Vergleich von Menschen (oder auch M?nnern) mit Pilzen[1] stellt, wie Benhabib ausf?hrt, ?ein vollendetes Bild der Autonomie" (ebd.) dar, das die Mutter durch die Erde ersetze und nicht nur das Geborenwerden, sondern auch die Abh?ngigkeit leugne, die insbesondere f?r die Zeit des Heranwachsens so charakteristisch ist. Honneth hat auf die Parallele in der feministischen Moraldiskussion immerhin in einer Fu?note bereits hingewiesen, ist ihr aber nicht weiter nachgegangen (Honneth 1994, 9). Umgekehrt spricht Young von Honneths anerkennungstheoretischen Ausf?hrungen als "Axel Honneths Feminism" (2010). Zusammenh?nge mit der sp?teren Gender-Theoriebildung sind dar?ber schon alleine durch die Bezugnahme auf die f?r die Gender und Queer Studies zentrale Theoretikerin Butler offensichtlich. Dar?ber hinaus l?sst sich Anerkennung im Sinne subjektivierender Anerkennungsans?tze auch als interaktives und performatives Doing im Sinne der ebenfalls f?r den Genderkontext wichtigen, ethnomethodologisch fundierten Konzepte des doing gender (Zimmermann und West 1987) und doing difference (Fenstermaker und West 1995) charakterisieren.
Anerkennung findet in Beziehungen statt und ist Teil von Beziehungen. Mit 'Beziehungen' sind in dieser Ausgabe 'soziale', 'zwischenmenschliche? oder 'pers?nliche' Relationen gemeint (vgl. Lenz und Nestmann 2009). Die Verbindungen zwischen organisationalen Einheiten, wie sie bspw. im Kontext der Etablierung der UN-Behindertenrechtskonvention auf globaler und nationaler Ebene analysiert werden (bspw. Schuster, Kolleck und J?rgens 2019), spielen zwar ebenfalls eine zentrale Rolle, bilden aber nicht den Schwerpunkt dieser Ausgabe. Die enorme Breite des Spektrums von Ans?tzen, die sich zwischenmenschlichen Beziehungen widmen, f?hrt Prengel in ihrer 2013 erschienenen Studie P?dagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz (Prengel 2013b) vor Augen. Sie geht dabei sowohl auf unterschiedliche relationentheoretische Ans?tze innerhalb der Erziehungswissenschaften ein, blickt vor allem aber auch ?ber den Tellerrand hinaus und stellt beziehungstheoretische Ans?tze aus der Philosophie, der Sozialphilosophie, den Sozialwissenschaften, der Sozialpsychologie, der Psychoanalyse, der Entwicklungspsychologie sowie bed?rfnistheoretische und salutogenetische Herangehensweisen vor und macht deutlich, dass diese wichtige Bezugspunkte f?r die Erziehungswissenschaften darstellen k?nnen. Dass es ebenfalls ein sehr breites Spektrum gibt, was die Qualit?t oder auch F?rderlichkeit von Beziehungen betrifft, macht sie dabei mit dem Titel des Buches deutlich.
Deutlich normativer sind didaktische Ans?tze: Eine nicht an Bedingungen gekn?pfte positive Wertsch?tzung aller Sch?lerinnen und Sch?ler sowie ein achtsamer Umgang mit sozialen Beziehungen z?hlen beispielsweise zu den zentralen Leitlinien einer inklusiven Didaktik (vgl. Kullmann u.a. 2014; Textor 2015a). Dies gilt auch f?r eine nicht spezifisch auf Inklusion ausgerichtete Didaktik (vgl. z.B. Textor 2015b, 121). Im Kontext der 'P?dagogik der Vielfalt' (Prengel 1993) wird Anerkennung als konstitutive Komponente 'egalit?rer Differenz' und 'guten Unterrichts' (vgl. u.a. Meyer 2013) konzipiert, was wiederum die Beziehungen in den Fokus r?ckt ? sowohl die Beziehungen zwischen der Lehrkraft und den Sch?ler*innen als auch die Beziehungen zwischen den Sch?ler*innen untereinander.
In dieser Ausgabe werden unterschiedliche theoretische Perspektiven auf Anerkennung in sozialen Beziehungen im schulischen Unterricht vorgestellt und diskutiert. In der zweiten von uns herausgegebenen Ausgabe zum Thema 'Anerkennung und Beziehungen' wird dann der Ertrag dieser Perspektiven f?r eine Didaktik, die sich auf die Spezifika inklusiver Lerngruppen bezieht, entwickelt und reflektiert.
In Auseinandersetzung mit unterschiedlichen relationentheoretischen Ans?tzen innerhalb der P?dagogik arbeitet Annedore Prengel die "existentielle Bedeutung der Qualit?t p?dagogischer Beziehungen f?r Entwicklung, Lernen und Sozialisation" heraus. Im Anschluss an eine Sondierung einer Reihe ausgew?hlter p?dagogisch-professioneller Ethikkodizes auf die Ber?cksichtigung ethisch fundierten p?dagogischen Konzeptionen f?hrt sie vor Augen, dass hier bisher noch ein erheblicher Mangel zu konstatieren ist. Vor diesem Hintergrund stellt Prengel die Reckahner Reflektionen vor, die sich ganz gezielt diesem Desidarat zuwenden. Von empirischen Beobachtungen ausgehend formulierten hier Expert*innen aus Bildungspraxis, -verwaltung, -politik und -wissenschaft zehn Leitlinien mit dem Ziel einer Verbesserung p?dagogischer Beziehungen. Abschlie?end verdeutlich sie deren Relevanz insbesondere auch f?r inklusionsp?dagogische Kontexte im Sinne der P?dagogik der Vielfalt.
Der Beitrag von Kersten Reich verweist dezidiert auf die Notwendigkeit einer konstruktiven Vermittlung der Inhalts- mit der Beziehungsseite in schulischen Lehr-Lernprozessen. W?rde der Beziehungsseite mehr Raum gegeben, so w?re ein lernf?rderliches Arbeitsklima in Schule und Unterricht gut m?glich. In drei Kapiteln wird aus einer gesellschaftskritischen Perspektive mit vorrangigem Bezug auf das deutsche Schul- und Bildungssystem die Trennung der Inhalts- und Beziehungsseite umfassend nachgezeichnet. Dabei wird verdeutlicht, dass ? historisch gewachsen ? die emotionale Grundbildung an die prim?re familiale Sozialisation gebunden ist und der schulischen Sozialisation, letztendlich auch durch die organisatorische Verfasstheit von Schule, die vorrangige Vermittlung disziplin?r gebundener Inhalte obliegt. Davon ausgehend bildet das vierte Kapitel eine deutliche Kritik der Lehramtsausbildung selbst, die das Schwergewicht auf die fachwissenschaftlichen Inhalte lege und die p?dagogische Beziehung vernachl?ssige. F?r Kersten Reich sind Partizipation, Kommunikation und Kooperation die entscheidenden S?ulen f?r gelungene schulische Lern- und Bildungsprozesse in einer modernen von Verschiedenheit gepr?gten Gesellschaft.
Ebenfalls eine kritische Perspektive entwickelt Nicole Balzer. In ihrem Beitrag wendet sie sich gegen ein Verst?ndnis von Heterogenit?t, das die individuell verschiedenen Lern- und Leistungsdispositionen diagnostiziert und davon ausgehend die Unterrichtsgestaltung vornimmt. Dem entgegen setzt sie im Anschluss an Stojanov die Notwendigkeit einer Anerkennung gleicher Entwicklungs-, Bildungs- und Autonomisierungsf?higkeit und r?ckt die Wandelbarbeit als Bezugspunkt f?r p?dagogische Anerkennungsbeziehungen in den Vordergrund. Vorbereitet werden die einzelnen Argumentationslinien durch eine systematische Nachzeichnung der Diskurse um Anerkennung von Heterogenit?t in der p?dagogischen Beziehung. Dabei arbeitet Balzer sowohl den Bedeutungsgehalt der Anerkennung von Heterogenit?t als auch der Anerkennung von Gleichheit heraus. Bezugspunkte bilden dabei Anerkennungspostulate, die u.a. im Rahmen von Ans?tzen zur individuellen F?rderung oder einer P?dagogik der Vielfalt formuliert werden.
Sowohl Markus Dederichals auchMai-Anh Bogeranalysieren die Ambivalenz von Anerkennungsprozessen. Markus Dederich fragt nach Implikationen eines normativ bzw. ethisch orientierten Begriffs von Anerkennung. Dabei setzt er unter Bezugnahme auf Butler den Begriff der Vulnerabilit?t zentral und untersucht, inwiefern unterschiedliche Konzepte von Vulnerabilit?t mit Prozessen von Anerkennung in Wechselwirkung stehen. Diese ?berlegungen werden mit Bezug auf Levinas erg?nzt durch Ausf?hrungen zu Subjektivierung und ethischer Gewalt; hier wird die Relevanz von Beziehungen zu Anderen in Anerkennungsprozessen deutlich. Schlie?lich werden Schlussfolgerungen f?r die Inklusion abgeleitet und dabei betont, dass Anerkennung ?keineswegs ausschlie?lich als soziales, p?dagogisches und politisches Antidot zu Verletzungserfahrungen zu sehen ist?, sondern vielmehr auch ein erhebliches Verletzungspotenzial birgt.
Im Zentrum des Beitrages von Mai-Anh Boger stehen drei Praxisbeispiele f?r das Aporetische und Riskante von Anerkennung in p?dagogischen Handlungszusammenh?ngen. Ausgew?hlt wurden Beispiele, die sich zum einen auf die drei Achsen der Theorie der trilemmatischen Inklusion beziehen und zum anderen auf die Differenzkategorien gender, race und disablity. Anhand der einzelnen Praxisbeispiele wird vor dem Hintergrund des gabentheoretischen Verst?ndnisses von Anerkennung nach Bedorf das Spannungsverh?ltnis wechselseitiger Anerkennung in ihrer (riskanten) Bedeutungsvielfalt aufgezeigt. Gleichfalls wird deutlich, dass niemals alle drei Pole des Trilemmas ? Empowerment, Dekonstruktion und Normalisierung ? gleichzeitig ber?cksichtigt werden k?nnen. Somit grenzt sich Boger stringent von einer zweistelligen Figur der (Ent)Dramatisierung von Anerkennungsprozessen ab. Ihre Argumentation schlie?t mit einer kritischen Einsch?tzung der Verwendbarkeit anerkennungstheoretischer Ans?tze f?r die p?dagogische Theoriebildung und Praxis und tritt konsequent daf?r ein, die Perspektive derjenigen, f?r die ein Begehren nach Anerkennung postuliert wird, als argumentativen Ausgangspunkt f?r p?dagogisches Handeln zu setzen.
Ulrike Graf und Telse Iwers gehen dem Thema 'Anerkennung und Wertsch?tzung' innerhalb unterschiedlicher Traditionslinien der Humanistischen P?dagogik nach. So zeigen sie die Bedeutung von Anerkennung und Wertsch?tzung im Rahmen der dialogischen Philosophie Martin Bubers, in der Themenzentrierten Interaktion Ruth Cohns sowie in der auf Carl Rogers beruhenden personenzentrierten Psychologie auf. Dar?ber hinaus reflektieren sie die Rolle von Wertsch?tzung und Anerkennung in Thomas Gordons theoretischem Modell der Selbstkonzeptentwicklung (bekannt sind diesbez?glich vor allem die Konzepte 'Lehrer-Sch?ler-' und 'Familienkonferenz') sowie im Rahmen des Gestaltansatzes von Fritz Perls (mit dem zentralen Konzept 'Awareness') und schlie?lich im Kontext von Achtsamkeitsans?tzen, die aktuell stark en vogue sind. Letztere bezeichnen Graf und Iwers zwar als eine eigenst?ndige Herangehensweise, weshalb sie ihnen auch ein eigenes Kapitel widmen. Diese wurzele aber in den zuvor bereits dargestellten Ans?tzen, woraus auch deren Anschlussf?higkeit an die Humanistische P?dagogik resultiert. Als gemeinsamen Kern aller vorgestellten Herangehensweisen arbeiten die Autorinnen erstens die ? nicht nur f?r den Aufsatz zentrale ? Kategorie 'Wertsch?tzung' (d.h. ein normativ orientiertes Verst?ndnis von 'Anerkennung') sowie zweitens eine Orientierung an der gesamten Person, einschlie?lich deren Leiblichkeit und damit verbunden an der Achtsamkeit allem Lebendigen gegen?ber und am Hier und Jetzt heraus. Im Anschluss gehen Graf und Iwers der Frage nach, was die Humanistische P?dagogik zur Gestaltung der aktuellen Entwicklungen oder auch Herausforderungen von Migration und Digitalisierung beizutragen vermag.
Mit diesen sechs Beitr?gen werden p?dagogische Anerkennungsbeziehungen ? unter Bezugnahme auf unterschiedliche Gegenst?nde und Grundlagentheorien thematisiert. Gleichwohl zeigen sich ?bergreifende Thematisierungslinien, z.B. Anerkennung als spannungsreiches Beziehungselement oder als Ausgangspunkt von Bildung im Sinne der autonomen Subjektentwicklung.
Wir danken den Autor*innen und Gutachter*innen f?r die angenehme und produktive Zusammenarbeit im Rahmen unserer Herausgeberinnenschaft und auch f?r ihre Geduld angesichts der leichten Verz?gerung des Erscheinens dieser Ausgabe. Unser Dank gilt dar?ber hinaus Dieter Katzenbach, insbesondere auch f?r sein Vertrauen, uns die Herausgeberinnenschaft zu ?bertragen, sowie dem Redaktionsteam der Zeitschrift f?r Inklusion online.net ? ganz besonders Herrn Frank J. M?ller, der die Texte f?r das Einstellen im Netz finalisiert hat. Und schlie?lich danken wir Burak Sen, der f?r alle Texte gewissenhaft die Schlusskorrektur ?bernommen hat.Literatur:
Balzer, N. (2014). Spuren der Anerkennung. Studien zu einer sozial- und erziehungswissenschaftlichen Kategorie. Wiesbaden: Springer VS.
Balzer, N. und Ricken, N. (2010). Anerkennung als p?dagogisches Problem. Markierungen im erziehungswissenschaftlichen Diskurs. In A. Sch?fer, C. Thompson (Hrsg.), Anerkennung (35-87). Paderborn.
Bedorf, T. (2010). Verkennende Anerkennung. ?ber Identit?t und Politik. Berlin: Suhrkamp.
Benhabib, (1989). Der verallgemeinerte und der konkrete Andere. Ans?tze zu einer feministischen Moraltheorie. In E. List und H. Pauer-Studer (Hrsg.), Denkverh?ltnisse. Feminismus und Kritik (454-487). Frankfurt am Main, aus dem Amerikanischen von Herlinde Studer. Originalver?ffentlichung: The Generalized and the Concrete Other: Visions of the Autonomous Self. Praxis International, Bd. 5, Nr. 4 1986, 402-424.
Boban, I. und Hinz, A. (2007). Orchestrating Learning!?! Der Index f?r Inklusion fragt ? Kooperatives Lernen hat Antworten. In I. Demmer-Dieckmann und A. Textor (Hrsg.), Integrationsforschung und Bildungspolitik im Dialog (117-125). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Butler, J. (1997). K?rper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt am Main: Suhrkamp, aus dem Amerikanischen von Karin W?rdemann, Bodies that Matter. New York 1993. deutsche Erstausgabe Berlin: Berlin Verlag 1995.
Feuser, G. (1989). Allgemeine integrative P?dagogik und entwicklungslogische Didaktik. Behindertenp?dagogik 28 (1), 4-48.
Feuser, G. (2011). Entwicklungslogische Didaktik. In A. Kaiser, D. Schmetz, P. Wachtel und B. Werner (Hrsg.), Didaktik und Unterricht (86 -100). Stuttgart: Kohlhammer.
Gilligan, C. (1988). Die andere Stimme. Lebenskonflikt und Moral der Frau, aus dem Amerikanischen von Brigitte Stein, Z?rich: Piper, Originalausgabe: In a Different Voice. Cambridge: Harvard University Press.
Hafeneger, B., Henkenborg, P., und Scherr, A. (Hrsg.) (2013). P?dagogik der Anerkennung. Grundlagen, Konzepte, Praxisfelder. Schwalbach/Ts: Debus P?dagogik Verlag.
Honneth, A. (1990). Integrit?t und Missachtung. Grundmotive einer Moral der Anerkennung. Merkur. Deutsche Zeitschrift f?r europ?isches Denken 44 (7), 1043-1045.
Honneth, A. (1992). Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Honneth, A. (2010). Das Ich im Wir: Studien zur Anerkennungstheorien. Berlin: Suhrkamp.
Ik?heimo, H. und Mooren, N. (2014). Anerkennung. Berlin und Boston: De Gruyter.
Katzenbach, D. (2010). Bildung und Anerkennung. In O. Musenberg und J. Riegert (Hrsg.), Bildung und geistige Behinderung. Bildungstheoretische Reflexionen und aktuelle Fragstellungen (93-114). Oberhausen: Altena.
Klafki, W. (1991/2007). Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Zeitgem??e Allgemeinbildung und kritisch-konstruktive Didaktik (6. Aufl.). Weinheim: Beltz.
Kullmann, H., L?tje-Klose, B. und Textor, A. (2014). Allgemeine Didaktik f?r inklusive Lerngruppen ? f?nf Leitprinzipien als Grundlage eines Bielefelder Ansatzes der inklusiven Didaktik. In B. Amrhein und M. Dziak-Mahler (Hrsg.), Fachdidaktik inklusiv ? Auf der Suche nach didaktischen Leitlinien f?r den Umgang mit Vielfalt in der Schule (89-107). M?nster: Waxmann.
Lenz, K. und Nestmann, F. (2009). Handbuch Pers?nliche Beziehungen. Weinheim: Juventa Verl.
Mecheril, P. (2005). P?dagogik der Anerkennung. Eine programmatische Kritik. In F. Hamburger, T. Badawia und M. Hummrich (Hrsg.). Migration und Bildung. ?ber das Verh?ltnis von Anerkennung und Zumutung in der Einwanderungsgesellschaft (311-328). Wiesbaden: Springer.
Meyer, H. (2013). Was ist guter Unterricht?. Berlin: Cornelsen.
Nagl-Docekal, H. und H. Pauer-Studer (1993). Jenseits der Geschlechtermoral. Beitr?ge zur feministischen Ethik. Frankfurt am Main: Fischer.
Prengel, A. (1993). P?dagogik der Vielfalt Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer P?dagogik. Opladen: Leske und Budrich.
Prengel, A. (2001). Egalit?re Differenz in der Bildung. In H. Lutz, N. Wenning (Hrsg.), Unterschiedlich verschieden. Differenzen in der Erziehungswissenschaft (93-107) Opladen: Leke und Budrich.
Prengel, A. (2008). Anerkennung als Kategorie p?dagogischen Handelns. Theorie und Vision einer anderen Schulkultur. P?dagogik 60, 32-35.
Prengel, A. (2013b). P?dagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz. Opladen: Barbara Budrich.
Rogers, C. R. (1989). Eine Theorie der Psychotherapie, der Pers?nlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Entwickelt im Rahmen des klientenzentrierten Ansatzes. K?ln: GwG. Erstver?ffentlichung 1959.
Rogers, C.R. (1994). Klientenzentrierte Psychotherapie. In R.J. Corsini (Hrsg.), Handbuch der Pyschotherapie (471-512). Weinheim: PVU.
Schuster, J., Kolleck, N. und J?rgens, H. (2019). Social Network Analysis to study social relations in the UNCRPD. SAGE Research Methods Cases.
Seitz, S. (2009). Inklusive Didaktik: Die Frage nach dem ?Kern der Sache?. Zeitschrift F?r Inklusion 1 (1). Online unter: https://www.inklusion-online.net/index.php/inklusion-online/article/view/184
Stojanov, K. (2006). Bildung und Anerkennung: Soziale Voraussetzungen von Selbst-Entwicklung und Welt-Erschlie?ung. Wiesbaden: VS-Verlag f?r Sozialwissenschaften.
Stojanov, K. (2011). Bildungsgerechtigkeit. Rekonstruktionen eines umk?mpften Begriffs. Wiesbaden: Springer VS.
Tausch, R. und Tausch, A. (1998). Erziehungspsychologie. Begegnung von Person zu Person. 11. ?berarb. Aufl. G?ttingen: Hogrefe.
Textor, A. (2015a). Gemeinsam Lernen. Theoretische Grundlagen und didaktische Leitlinien f?r einen Inklusion unterst?tzenden Unterricht. In C. Fischer (Hrsg.), (Keine) Angst vor Inklusion. Herausforderungen und Chancen gemeinsamen Lernens in der Schule (37-59). M?nster und New York: Waxmann.
Textor, A. (2015b). Einf?hrung in die Inklusionsp?dagogik. Unter Mitarbeit von Daniela Niestradt, Benjamin Filitz, Jessica Matis, Aukje R?ting und Hannah Zingler. Bad Heilbrunn: Klinkhardt/ UTB.
Todorov, T.. Abenteuer des Zusammenlebens. Versuch einer allgemeinen Anthropologie, aus dem Franz?sischen von Wolfgang Kaiser. Berlin: Verlag Walgenbach, Originalver?ffentlichung 1995 Paris: Editions du Seuil.
West, C. und Fenstermaker, (1995). Doing Difference. Gender and Society 9 (1), 8-37.
West, C. und Zimmermann D. H. (1987): Doing Gender. Gender and Society 1 (2), 125-151.
Wocken, H. (1998). Gemeinsame Lernsituationen. Eine Skizze zur Theorie des gemeinsamen Unterrichts. In A. Hildeschmidt und I. Schnell (Hrsg.), Integrationsp?dagogik (37 -52). Weinheim: Juventa.
Wocken, H. (2011/2012). Das Haus der inklusiven Schule. Baustelle ? Baupl?ne ? Bausteine (3. Aufl.). Hamburg: Feldhaus.
Young, I. M. (2007). Recognition of Love?s Labor: Considering Axel Honneth's Feminism. In B. van den Brink und D. Owen (Hrsg.), Recognition and Power. Axel Honneth and the Tradition of Critical Social Theory (189-212). Cambridge u.a..
[1] Biologisch gesehen ist das Bild mit den Pilzen ohnehin nicht korrekt: Bei den z.B. oberhalb der Erdoberfl?che sichtbaren ?Pilzen? handelt es sich lediglich um die Fruchtk?rper eines viel gr??eren Organismus. Der Pilz selbst besteht im Wesentlichen aus dem Myzel, das sich z.B. in der Erde befindet und h?ufig mit anderen Pilzmyzelen vernetzt ist. Einige Pilze leben auch in Symbiose mit Pflanzen. Die Vorstellung, dass es sich bei den 'Pilzen' um autonome, quasi aus dem Nichts entsprungene Organismen handele, ist also biologisch grundlegend falsch, ?hnlich wie die Vorstellung von der vermeintlichen Autonomie der M?nner/Menschen. Letztlich passt das Bild der M?nner/Menschen als Pilzen darum dann vielleicht gerade deshalb doch: nicht jedoch zur Veranschaulichung von deren Autonomie, sondern stattdessen vielmehr von deren tats?chlicher Abh?ngigkeit oder auch f?r die Verdeutlichung der Illusion von Autonomie bei einer tats?chlichen Abh?ngigkeit. -
4-2019
Wir freuen uns, Ihnen zum Jahreswechsel die Ausgabe 4/2019 vorlegen zu k?nnen. Dabei handelt es sich um die Zusammenfassung von Beitr?gen, die im Rahmen des Forschungs- und Praxisverbunds Inklusion an Hochschulen f?r ein barrierefreies Bayern verfasst wurden. Insgesamt waren die Universit?ten Bayreuth und W?rzburg sowie die Hochschulen f?r angewandte Wissenschaften Ansbach, Deggendorf, Landshut und M?nchen beteiligt. Ziel des Forschungs- und Praxisverbunds war es, Prozesse, die durch die Hochschulen angesto?en wurden, zusammen zu f?hren und wissenschaftlich zu begleiten. Dabei sollten inklusionsorientierte Forschungsans?tze vorangetrieben, neue Lehrformen entwickelt, Netzwerke gebildet und Handlungsempfehlungen formuliert werden. Von den Impulsen sollte neben ihrer Bedeutung f?r das Handlungsfeld Hochschule auch eine Signalwirkung f?r ein barrierefreieres Bayern ausgehen. Der Forschungs- und Praxisverbund steht im Kontext der Initiative Bayern barrierefrei 2023 und der Verabschiedung des Konzepts ?Inklusive Hochschule? durch die bayerische Staatsregierung im Jahre 2012. Bez?glich der Gestaltung eines barrierefreien Studien- und Arbeitsumfelds im Hochschulbereich bestehen weiterhin vielf?ltige Handlungsbedarfe. Die Herausforderungen, denen sich bayerische Bildungs- und Kultureinrichtungen in diesem Zusammenhang stellen m?ssen, sind nach wie vor gro?, und sie betreffen nicht nur baulich-architektonische Fragen, sondern beispielsweise auch didaktische Aspekte der Lehre und der Studienorganisation.
??ffentliche R?ume vermitteln Wissen, Kompetenz, Sinn, Gemeinschaft und Gesellschaft - diese Inhalte m?ssen barrierefrei, also f?r alle zug?nglich und inklusiv sein. Unter diesem Paradigma, welches ?ffentlichen Raum nicht allein als bauliche Struktur versteht, sondern als Raum f?r Austausch, Studium, Lernen und Begegnung, soll im Forschungs- und Praxisverbund ?Inklusive Hochschule und barrierefreies Bayern? erforscht und erprobt werden, wie inklusive Hochschulbildung, kulturelles Leben und aktive Teilhabe selbstverst?ndlich werden. Accessability im Sinne eines barrierefreien Bayern mit f?r alle zug?nglichen Bildungs- und Kultureinrichtungen kann nur Wirklichkeit werden, wenn die vorhandenen Expertisen und Kompetenzen an den bayerischen Universit?ten und Hochschulen f?r angewandte Wissenschaften systematisch zusammengef?hrt, ausgebaut und st?rker in die Praxis ?berf?hrt werden. Genau dies strebt der Forschungs- und Praxisverbund ?Inklusion an Hochschulen und barrierefreies Bayern? an. Die Aktivit?ten des Verbundes umfassen die anwendungsnahe Forschung ebenso wie die Implementierungen der Ergebnisse; sie zielen auf die Verbesserung der Studiensituation wie der baulichen Gegebenheiten, bilden Fachkr?fte aus und bieten Entw?rfe f?r eine inklusive Studien- und Lebenswelt.? (M?lter, Sandra, In: Gemeinsam Leben 4/2019, 206f)
Aufgrund ihrer Expertise waren die Beteiligten am Projektverbund in der Lage, zentrale Forschungsfragen interdisziplin?r anzugehen. So haben sich die Forschungsarbeiten an der Universit?t W?rzburg den Gelingensbedingungen inklusiver Hochschulbildung und den Gelingensbedingungen der Arbeit der ?rtlichen Schwerbehindertenvertretungen im Bereich Wissenschaft und Kunst sowie Unterricht und Kultus der beiden jeweiligen Bayerischen Staatsministerien gewidmet, w?hrend an der Hochschule Landshut die Erfahrungen geh?rloser Menschen im akademischen Betrieb erkundet wurden. Die Universit?t Bayreuth weitete die Perspektive ?ber Hochschulen hinaus auf die Zug?nglichkeit von Kultureinrichtungen. An der Hochschule Ansbach wird ein barrierefreies multimediales Leitsystem entwickelt, das nicht nur an Hochschulen, sondern auch f?r andere ?ffentliche Geb?ude genutzt werden kann. Um die Fachkr?fte von morgen f?r Fragen der Barrierefreiheit und Inklusion zu sensibilisieren, entwickelte die Fakult?t f?r Architektur der Hochschule M?nchen ein Format zu Grundlagen der Inklusion f?r ihr Lehrangebot.
Die Projekte setzten sich ebenfalls als Ziel, aus praktischen Erfahrungen und Forschungsergebnissen gespeiste Empfehlungen und Leitlinien zu entwickeln.
All dies konnte und sollte nicht ohne den Einbezug von Menschen, die sich als behindert adressiert sehen, geschehen. Deshalb wurden Menschen mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen im Verbundprojekt von Anfang an in den Forschungsprozess und die Entwicklung der Handlungsempfehlungen eingebunden.
Der Forschungs- und Praxisverbund ?Inklusion an Hochschulen und barrierefreies Bayern? wurde an der Julius-Maximilians-Universit?t W?rzburg durch die Kontakt- und Informationsstelle f?r Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung (KIS) koordiniert.
Olaf Hoos, Julia Loose und Laura B?nner (W?rzburg) fokussieren die Identifizierung zentraler Gelingensbedingungen inklusiver Hochschulbildung f?r Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung in Bayern. Hierzu wurden anhand eines Mixed-Methods-Ansatzes themenspezifisches Wissen und Einstellungen von Lehrenden sowie Beauftragten an bayerischen Hochschulen mittels problemzentrierter Interviews sowie einer validierten ?bersetzung eines themenspezifischen internationalen Befragungsinstruments erhoben.
Im Rahmen eines 2. Teilprojekts in W?rzburg besch?ftigte sich Bernd M?lter im seinem Beitrag mit dem Einfluss von Vorkenntnissen auf die Arbeit von Schwerbehindertenvertretungen in Bayern. Au?erdem widmete man sich der Qualifizierung der ?rtlichen Schwerbehindertenvertretungen in den Bereichen ?Wissenschaft und Kunst? sowie ?Unterricht und Kultus? durch Weiterbildungen zu inklusionsspezifischen Themen mit dem Ziel die ?rtlichen Schwerbehindertenvertretung in den entsprechenden Bereich besser zu vernetzen, die Besch?ftigtenquote schwerbehinderter Menschen im Wissenschaftsressort durch bessere Kompetenz der ?rtlichen Schwerbehindertenvertretungen zu erh?hen und die Beratung und Unterst?tzung der Dienststellen in Schwerbehindertenfragen durch kompetente Schwerbehindertenvertretungen zu verbessern.
Katharina Fink vom Team BayFink (Bayerische Forschungs- und Informationsstelle Inklusive Hochschulen und Kultureinrichtungen) befasste sich mit der barrierefreien Zug?nglichkeit von Kultureinrichtungen. Der Ort f?r das explorative Arbeiten ist das Iwalewahaus, ein Ort der Produktion und Pr?sentation diskursorientierter, zeitgen?ssischer Kunst. Durch Ausstellungen, universit?re Forschung und Lehre, Sammlungen, Archiv, K?nstlerresidenzen und Veranstaltungen wurden die j?ngsten Entwicklungen in der zeitgen?ssischen Kultur Afrikas vorgestellt und in Kooperationen mit K?nstlerinnen und K?nstlern und Institutionen aktiv weiterentwickelt. Inklusion als ?sthetisches, utopisches Projekt zu verstehen und gemeinsam mit internationalen Partnerinnen und Partnern zu entwickeln steht im Zentrum der vielf?ltigen Aktivit?ten.
Carmen B?hm, Uta Benner und Clemens Dannenbeck (Landshut) zeichneten f?r das Projekt ?Geh?rlos studieren in Bayern - Exploration des Forschungsfeldes aus Sicht inklusionsorientierter Hochschule? verantwortlich. Dabei wurden vierzehn schwerh?rige, geh?rlose und sp?tertaubte Personen sowie Cochlea Implantat Tr?ger*innen in Form qualitativer Interviews befragt, um die spezifische Studiensituation sich als geh?rlos verstehender Studierender in Bayern zu eruieren. Die Ergebnisse der biographisch-narrativen Interviews verweisen dabei deutlich auf einen Zusammenhang zwischen der Geh?rlosigkeit und den Bildungserfahrungen der befragten Personen. Als wesentliche Ergebnisse sind die gr??tenteils erstmalige Auseinandersetzung mit eigenen kommunikativen Bedarfen in h?renden Settings ohne ad?quate Beratungsangebote sowie die Erarbeitung hierzu passender Lern- und Kommunikationsstrategien der Befragten zu nennen. Der organisatorische Mehraufwand, den geh?rlose Studierende bei der Beantragung, Organisation und Finanzierung kommunikativer Hilfen im Studium zu bew?ltigen haben ist ein weiterer Faktor, der die Zielgruppe der vorliegenden Studie auszeichnet. Zudem erleben sich die Befragten als abh?ngig vom Wohlwollen ihrer KommilitonInnen und Dozent*innen, was Unterst?tzung bei der Teilhabe an Lehrveranstaltungen und sozialen Aktivit?ten sowie der Aufbereitung des Lehrstoffes betrifft. Auf Basis der Ergebnisse wurden Informationsmaterialen erarbeitet, die bayerischen Hochschulen und Universit?ten kostenfrei zur Verf?gung gestellt werden und zur Verbesserung kommunikativer Barrierefreiheit f?r h?rbehinderte Studierende beitragen soll.
Markus Paul und Dunja Z?ller entwickeln im Rahmen des Projektes Der Campus-Lotse ein barrierefreies Indoorleitsystem f?r ?ffentliche Geb?ude, das in mehreren Stufen aufeinander aufbaut. Zun?chst wurde und wird ein digitales, smartphone-gest?tztes Leitsystems auf App-Basis konzeptioniert und entwickelt. In einem zweiten Schritt soll das System zu einer Art multimedialen mobilen Geb?udekompass erweitert werden k?nnen. Die installierte Technologie k?nnte sinnvoll mit analogen Elementen eines taktilen Leitsystems f?r Blinde und Sehbehinderte komplettiert werden, um eine Orientierung innerhalb eines Geb?udekomplexes zu erm?glichen. Blinde und sehbehinderte Personen bildeten die Basiszielgruppen des Projektes.
Andrea Benze vom Projekt der Hochschule M?nchen ?St?dtebau und Stadtstruktur? siedelte das Thema im Bereich St?dtebau an. Eine Begeisterung der Studierenden f?r Inklusion und eine nachhaltige Einsicht in die Wichtigkeit dieses Themas war m?glich, indem Inklusion als gesellschaftliches Konzept betrachtet wurde und nicht auf das Erlernen bestehender Regeln f?r barrierefreies Bauen eingegrenzt wurde. Stadt wurde unter dem Aspekt der Inklusion neu gelesen und verstanden mit dem Ziel, Herzst?ck war ein Reallabor, ein Format, in dem Lehrveranstaltungen im St?dtebau im direkten Austausch mit der Stadtentwicklung durchgef?hrt wurden. Seminare zur Recherche und Analyse sowie Entwurfsprojekte zum ?Research by Design? konnten in die Arbeit des Reallabors einbezogen werden. Im zweiten Jahr des Projektes stand zus?tzlich die Planung einer Reihe ?ffentlicher Werkstattgespr?che ?Inklusionsmaschine STADT? sowie die Konzeption einer Publikation der Ergebnisse aus den Werkstattgespr?chen im Mittelpunkt der Aktivit?ten.
Der Verbund hat in der bayerischen Hochschullandschaft die Sensibilisierung f?r den Themenbereich verst?rkt und eine Dynamik angesto?en, die ?ber die aktuell beteiligten Verbundpartner und den angestrebten F?rderzeitraum hinausgreift. Die Herausforderungen, die sich auf dem Weg zu einem barrierefreien Bayern im ?ffentlichen wie im privatwirtschaftlichen Sektor stellen, verlangen nun nach einer breiteren Erschlie?ung in Forschung, Lehre und Wissensvermittlung.
Sandra M?lter, Clemens Dannenbeck (Gastherausgeberschaft)
-
3-2019
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, Ihnen mit dieser dritten Ausgabe von Inklusion-Online im Jahr 2019 wieder ein breites Spektrum frei eingereichter Beitr?ge vorstellen zu d?rfen, die ein Licht auf aktuelle Forschungsaktivit?ten und unterschiedliche Themenfelder werfen, die gegenw?rtig mit inklusiven Entwicklungen und Bem?hungen verbunden werden. Inklusionsorientierte Entwicklung als gesamtgesellschaftliche Gestaltungsaufgabe zu verstehen, ruft die Kommunen auf den Plan. Der Beitrag von Lena Bertelmann erinnert daran, dass die Etablierung einer inklusionsorientierten Praxis als Konsequenz aus dem gesetzlichen Rahmen, den die UN-Konvention ?ber die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) darstellt, noch keineswegs ?berall als Gestaltungsaufgabe erkannt ist. Vor allem auf kommunaler Ebene spiegelt sich dies in dem Ma?e, in dem die verantwortlich handelnden Akteure hier engagiert sind und sich die Gestaltung eines inklusionsorientierten Gemeinwesens als ihre Aufgabe zu eigen machen. Der vorliegende Beitrag arbeitet die Bedeutsamkeit der Gemeinde und des Ortsbezirks hinsichtlich der Frage nach den Teilhabem?glichkeiten f?r Menschen mit Behinderung heraus und verdeutlicht die Rolle der Gemeinde und der Ortsbeir?te bei der Planung von Teilhabeprozessen. Grundlage der Argumentation bilden Befunde von Erhebungen auf kommunaler Ebene in kreisangeh?rigen St?dten und Gemeinden sowie ihren Ortsbezirken. Inklusion als Querschnittsthema in den Verwaltungen ist vielerorts erst noch zu etablieren, was breit angelegte Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung erfordert. Es fehlt h?ufig sowohl an Kenntnissen ?ber die Bedarfslagen von Menschen mit Behinderung als auch an Artikulations- und Partizipationsoptionen f?r gesellschaftliche Teilgruppen.
Matthias Kempf und Albrecht Rohrmann hinterfragen, inwiefern und inwieweit Ans?tze integrierter Sozialplanung sich dem Anliegen der Inklusion verpflichtet f?hlen. Insofern steht auch in diesem Beitrag die kommunale Ebene im Fokus der Betrachtung, wenn es darum geht, einen Blick darauf zu werfen, auf welche Bedingungen die Anwendung der UN-BRK in Deutschland trifft. Konkret wird betrachtet, wie Inklusion als Bestandteil des Planungsansatzes zur Entwicklung einer an Vielfalt und Beteiligung ausgerichteten Sozialplanung aufgegriffen wird und unter welchen fachlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen dies geschieht. Dabei warnen die Autoren einerseits von einem eher pflichtgem?? demonstrativen Aufgreifen der Thematik im Rahmen bestehender Vorstellungen seitens der Sozialplanung durch Kommunen, andererseits bergen restriktive Vorgaben die Gefahr eines ?berst?rzten und fehlerhaften Aktivismus, der die ?rtlichen Spezifika tendenziell unber?cksichtigt lassen k?nnte.
Anschlie?end verfolgen Ines Boban und Andreas Hinz weiter ihr Programm, die theoretischen und praktischen Schnittstellen zwischen Inklusionsp?dagogik und Ans?tzen Demokratischer Bildung zu untersuchen und deren Bez?ge fruchtbar werden zu lassen f?r ein inklusionsorientiert ver?ndertes p?dagogisches Handeln, das dem menschenrechtlichen Begr?ndungszusammenhang der UN-BRK gerecht zu werden vermag. Diese Perspektive ist nicht zuletzt von dem Befund geleitet, dass der Inklusions-Diskurs immer unverkennbare Z?ge einer ? theoretischen wie praktischen und vor allem auch politischen ? Verflachung an sich tr?gt, der nach einer kritischen Wendung verlangt und wohl auch neuer theoretischer Impulse bedarf. In diesem Zusammenhang ermutigt der vorliegende Beitrag dazu, die Kritische P?dagogik Paulo Freires aufzugreifen und darauf aufbauende Weiterentwicklungen der Critical Literacy und Critical Mathemacy zu rezipieren. Beispielhaft wird gezeigt, welche Potenziale ?Kritisches Lernen? im Kontext eines inklusionstheoretisch ausgerichteten und den demokratischen Prinzipien verpflichteten Unterrichts entfalten k?nnte.Folke Brodersen und Kien Tran analysieren Freundschaftsbeziehungen zwischen Jugendlichen mit Behinderung auf der empirischen Basis egozentrierter Netzwerkanalysen. Damit betreten sie ein weithin unbearbeitetes Forschungsgebiet der Jugendforschung, die trotz repr?sentativer Aussagen immer noch gr??tenteils Jugendliche mit Behinderung systematisch ?bersieht und infolgedessen bislang in hohem Ma?e einen Nachholbedarf an Diversit?tsorientierung aufweist. So wei? man relativ wenig ?ber Sozialbeziehungen von Jugendlichen mit Behinderung, was nicht zuletzt auch mit methodischen und methodologischen Problemen der Datenerhebung und gew?hlten Zug?nge zusammenh?ngt. Der Beitrag pr?ft, welche Entwicklungs- und Anwendungspotenziale in egozentrierten Netzwerkanalysen f?r die beschriebene defizit?re Situation liegen und diskutiert, welche Erkenntnisgewinne durch ihre Anwendung zu erwarten w?ren.
J?rgen Budde, Nina Blasse, Georg Ri?ler und Victoria Wesemann gehen der Frage nach, welche Wirkungen von praktizierter ?Inklusion? im Unterricht auf das Handeln und die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen am Geschehen beteiligten Professionellen ausgeht. Anforderungen an fachliche Kooperation muss dabei nicht auf einer geteilten Interpretation von Inklusionsorientierung beruhen, sondern kann sich in der wechselseitigen Delegation von Verantwortung f?r Sch?ler*innen mit und ohne Behinderung ersch?pfen. Die Autor*innen erkennen in dieser doppelten Delegation einen eklatanten Widerspruch zu ?normativen Semantiken einer ?Kooperation auf Augenh?he?, eines ?Unterrichts f?r alle? oder auch zur Annahme, dass Inklusion ?eine Frage der Haltung? sei. Vielmehr liegt in diesem Professionalisierungsdilemma ein Grund f?r die qualitativ unzureichende integrative Praxis, die weder als Einl?sung des inklusiven Anspruchs gelten kann, noch wirklich volle Teilhabe f?r alle bedeutet. Der Beitrag illustriert auf Basis ethnografischer Unterrichtsbeobachtungen an Gemeinschaftsschulen in Schleswig-Holstein exkludierende und differenzverst?rkende Praxen. Dem wirksam zu begegnen, so das Pl?doyer, setzt ein Problembewusstsein voraus, das Inklusion als gesamtgesellschaftliche Herausforderung begreift, die ?ber eine professionelle Selbstreflexion schulischer Praxis hinausgreift.
Ausgehend von der Frage, wie Kognitionen von Lehrkr?ften handlungsbestimmend f?r die Unterrichtspraxis sind und welche Folgen dieser Zusammenhang f?r den Bildungserfolg spezifischer Sch?ler*innengruppen hat, untersucht der Beitrag von Toni Simon empirisch inwiefern sich bei angehenden Lehrkr?ften eine Fokussierung auf bestimmte Heterogenit?tsdimensionen feststellen l?sst, inwiefern die heterogenit?tsbezogenen Einstellungen sich als belastungs- und normbezogen negativ oder differenzbezogen positiv beschreiben lassen und inwiefern ausgew?hlte Variablen diese Einstellungen zu beeinflussen verm?gen. Empirische Grundlage bildet ein Teilsample der INSL-Studie (Inklusion aus Sicht angehender Sachunterrichts-Lehrkr?fte). ?Die Ergebnisse deuten auf ambivalente Einstellungen im Spannungsfeld von Differenzanerkennung und normierendem Homogenisierungsdenken hin, die dem Anspruch einer inklusionsorientierten individuellen F?rderung im Unterricht entgegenstehen k?nnen.? Sabine Wei?, Adina K?chler, Magdalena Muckenthaler, Ulrich Heimlich und Ewald Kiel fragen nach der tats?chlichen Belastung von Lehrkr?ften in inklusionsorientierten Schulen in Bayern vor dem Hintergrund der h?ufig kolportierten Unterstellung, individuelle F?rderung und Konfrontation mit komplexer Vielfalt w?rde zu einer systematischen ?berforderung f?hren. Der Beitrag wendet sich insgesamt 49 Schulen in Bayern zu, die im Besitz des ?Schulprofils Inklusion? sind, also ausgewiesenerma?en sich den Herausforderungen einer inklusionsorientierten Qualit?ts- und Organisationsentwicklung stellen. Die 485 in die Untersuchung einbezogenen Lehrkr?fte sind damit mit ihren Erfahrungen in bildungspolitisch als ?inklusiv? definierten Settings positioniert. Im Kontext des inklusionsorientierten Agierens werden Anforderungen wie eine adaptive Unterrichtsgestaltung, multiprofessionelle Kooperation oder auch konzeptionelle Anforderungen dabei nicht als besondere Belastungsfaktoren genannt. Ma?nahmen, die davon ausgehen, dass inklusive Settings prim?r als belastend zu interpretieren w?ren, erscheinen damit wenig angebracht, vielmehr f?hrt kein Weg daran vorbei, unterst?tzende Ma?nahmen m?glichst kontextspezifisch und individuell an der Situation des konkreten Einzelfalls auszurichten. Sarah Maa? berichtet aus einem DFG-Forschungsprojekt an der Universit?t Duisburg-Essen, das die deutschsprachige Literaturpreislandschaft quantitativ und qualitativ untersucht. Der vorliegende Beitrag thematisiert dabei die kleine Gruppe von sechs Literaturpreisen in Deutschland und ?sterreich, die einen Inklusionsbezug aufweisen. Diese befassen sich mit Literatur von oder auch f?r Menschen mit so genannter geistiger Behinderung. Damit signalisieren diese Preise einen Zusammenhang zwischen literarischer Praxis und der kultur- und bildungspolitischen Verpflichtung zu einem spezifischen Wertekanon, der sich an Vielfalt, Partizipation und ?Inklusion? orientiert. Das Profil der genannten Preise sowie die Praxis der Preisvergabe werden diskursanalytisch sowie literatur- und kulturwissenschaftlich fundiert analysiert. ?Besondere Aufmerksamkeit wird dabei auf die Art und Weise gelegt werden, wie sich ?Identifikationsregime? (Jacques Ranci?re) und Wertordnungen von Behinderung und Literatur (etwa Konzepte literarischen Schreibens, literarischen Werts und Autorschaft) verzahnen und wie das Potential zur St?rung symbolischer und sozialer Ordnungen, das der Inklusion als Haltung eignet, ?reterritorialisiert? (Gilles Deleuze) wird?.
Bettina Streese und Jacquelin Kluge zeichnen die Situation der F?rderschulen in Niedersachsen nach und thematisieren den Ver?nderungsdruck, dem sie sich ausgesetzt sehen, aber auch das Beharrungsverm?gen, das infolge der bildungspolitischen Rahmenbedingungen in struktureller und institutioneller Hinsicht fortbesteht. Die einerseits durch die Vorgabe des Geltungsanspruchs der UN-BRK, andererseits durch bildungspolitische Entscheidungen, strategisch an den existierenden Parallelsystemen festzuhalten, entstehenden Spannungsfelder bestimmen die Perspektiven f?r die Zukunft der F?rderschulen. Die Autorinnen vermissen f?r Niedersachsen ein Gesamtkonzept zur Realisierung eines inklusionsorientierten Bildungssystems, das den Anforderungen und dem Anspruch der UN-BRK gerecht wird. Eine politische Steuerung, die zwar rhetorisch die Parallelstrukturen hinterfrage, sie jedoch praktisch bislang nicht systematisch in eine inklusionsorientierte Gesamtentwicklung einbezogen hat, sondern im Gegenteil in vorhandene exkludierende Strukturen weiter investiert, wird ihr Ziel verfehlen.
Als Themenschwerpunkt der folgenden Ausgabe ist geplant:
4/2019 Befunde des Forschungs- und Praxisverbunds Inklusion an Hochschulen und barrierefreies BayernWir w?nschen Ihnen eine anregende Lekt?re.
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
f?r die Redaktion von Inklusion-Online -
2-2019
Einleitung
Die Beitr?ge der vorliegenden Ausgabe ?Norm, Behinderung, Gerechtigkeit? der Zeitschrift f?r Inklusion (2/2019) gehen zur?ck auf die Tagung ?Erziehungswissenschaftliche Inklusionsforschung. Norm ? Behinderung ? Gerechtigkeit.? der AG Inklusionsforschung der DGfE am 28. und 29.06.2018 an der Europa-Universita?t Flensburg.[1] Konkret handelt es sich bei den hier versammelten Beitr?gen um solche aus sogenannten ?Impulsrunden?, in denen Expert*innen mit den Begriffen Norm, Behinderung und Gerechtigkeit drei Schlu?sselbegriffe der deutschsprachigen Inklusionsdebatte aus unterschiedlichen theoretischen Positionen heraus diskutiert haben. Das diskursive Format eines Impulses sollte bei der Schriftfassung f?r diese Ausgabe der Zeitschrift f?r Inklusion ausdr?cklich erhalten bleiben. Die Bestimmung dieser drei Begriffe als ?Schl?sselbegriffe? ist als eine vorl?ufige Setzung zu verstehen, mit der anderen, ebenfalls zentralen Begrifflichkeiten des aktuellen Inklusionsdiskurses wie z.B. Teilhabe, Bildung, Leistung und Ko?rperlichkeit keine geringere Bedeutung zugewiesen werden soll. Im call for papers der Tagung waren diese zus?tzlichen Begriffe daher ausdr?cklich genannt und in ?Themenforen? diskutiert worden. Dennoch m?chten wir an dieser Stelle begr?nden, warum wir Norm, Behinderung und Gerechtigkeit mit diesem Themenheft erneut in den Vordergrund r?cken.
Der ?berlegung, eine vertiefte Auseinandersetzung um theoretische Begriffe des Inklusionsdiskurses anzuregen, sind die folgenden Beobachtungen vorausgegangen. Inklusion ist im vergangenen Jahrzehnt im Zuge bildungs- und sozialpolitischer Reformen zu einem zentralen Themenfeld der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft in Theoriebildung, empirischer Forschung und universit?rer Lehre avanciert. Entsprechende Professuren, bildungspolitische Programme, erziehungswissenschaftliche Studien und Publikationen manifestieren die gewachsene Bedeutung der Inklusionsforschung. Bei genauerer Betrachtung der Forschungen zu Inklusion dra?ngt sich allerdings der Eindruck auf, dass in den letzten Jahren zwar zahlreiche empirische, politische sowie praktisch-pa?dagogische Aktivita?ten entfaltet worden sind, die theoretische Fundierung allerdings nicht in gleichem Ma?e entwickelt wurde. Um dieses Ungleichgewicht aufzugreifen und zu bearbeiten, ist explizit die Auseinandersetzung mit zentralen Begriffen und ihrer theoretischen Verfasstheit ins Zentrum gestellt worden. Die Wahl ist auf die Begriffe Norm, Behinderung und Gerechtigkeit gefallen, da die Forschung zu Inklusion und Exklusion Fragen nach Bildungsprozessen sowie Behinderungen und Benachteiligungen innerhalb von Bildungs- und Erziehungsorganisationen in den Fokus r?ckt. Diese sind eng verbunden mit Diskussionen zu Normen bzw. Normalit?t und Normierungen, da das Verh?ltnis von Norm und Abweichung als gegenseitiges Konstitutionsverha?ltnis ein zentrales Spannungsfeld sowohl f?r Forschung als auch f?r Bildungs- und Erziehungspraxis darstellt. Jede Konstruktion einer Norm ? sei es etwa in Bezug auf Bildungs- und Erziehungsziele, Kompetenzen, K?rper oder Werte ? impliziert gleicherma?en die Konstruktion dessen, was als abweichend betrachtet und gelabelt wird. Diese Annahme gilt selbstredend auch in umgekehrter Richtung. Forschung zu Inklusion und Exklusion greift aber auch Fragen von Gerechtigkeit auf, schlie?t hier Debatten um soziale Ungleichheiten und Leistungskonzepte an und diskutiert Prozesse gesellschaftlicher Anerkennung von Differenz sowie die Vor- und Nachteile von (De-)Kategorisierungen im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext. Diese Begriffe bzw. Konzepte sind nicht nur in sich spannungsreich, sondern sie stehen ebenfalls in spannungsvollen Verha?ltnissen zu anderen erziehungswissenschaftlichen und pa?dagogischen Begriffen, was eine versta?rkte Auseinandersetzung mit theoretischen Positionen umso notwendiger erscheinen la?sst. Auch ist zu fragen, inwieweit und in welcher Form erziehungswissenschaftliche Kernbegriffe und Konzepte vor dem Hintergrund des Diskurses zu Inklusion erneut zu reflektieren sind und inwiefern die Auseinandersetzung mit Inklusion neue Zuga?nge zu ihnen ero?ffnet oder sie in spezifischer Weise konturiert. Es geht also ?ber die Erarbeitung und ?Vermessung? von analytischen Begriffen, die dem Gegenstand Inklusion angemessenen sind, hinaus.
Zu den Beitr?gen im Einzelnen:Andrea Platte diskutiert anhand von vier ?Beobachtungen? die Verwendung des Normbegriffs in den Diskursen und Debatten um Inklusion sowie in der ?Inklusionsforschung?: Erstens habe der Normbegriff in der inklusionsbezogenen Forschung Konjunktur. Zweitens werde er in der inklusiven P?dagogik meist im Sinne der Anerkennung eines breiten Spektrums von menschlichen Entwicklungen und Eigenkomplexit?ten als Normalit?t verwendet. Drittens habe ?Inklusion? in den letzten Jahren verschiedene Normverschiebungen ? z.B. von einer kritisch-normativen zu einer affirmativ-normativen Interpretation innerhalb des selektiven Schulsystems ? hervorgebracht. Und viertens zeige sich die Verwendung des Inklusions- und des Normbegriffs als vielf?ltig, aber v.a. auch als widerspr?chlich. Im Fazit dringt Platte auf Wachsamkeit der ?Inklusionsforschung? hinsichtlich Normen und Normierungen.
Der Beitrag ?Inklusion und Norm ? Inklusion als Norm?? von Julie A. Panagiotopoulou analysiert die reziproke Verfasstheit der Begriffe Inklusion und Norm. Auf der einen Seite wird ? mit etymologischen Bez?gen zur sprachhistorischen Herkunft ? der Begriff der Norm relational zu Abweichung skizziert. Beispielhaft wird hier die ?sprachliche Herkunft? als abweichend konstruiertes Merkmal in Bildungskontexten angef?hrt, wodurch Exklusionspotenziale entstehen. Auf der anderen Seite wird der Inklusionsdiskurs kritisch in den Blick genommen, der sich derzeit stark an der in der UN-Behindertenrechtskonvention gesetzten, menschenrechtlichen Norm orientiere und Gefahr laufe, sich so programmatisch als eigenst?ndige Norm zu entfalten, die inh?rente Exklusionsmechanismen aufbaue.
Daniel Wrana beleuchtet in seinem Essay die ?Normativit?t der Inklusion? und unterscheidet dazu in einem ersten Schritt idealtypisch zwei relational miteinander verbundene Verst?ndnisse von Behinderung: ein essentialistisches und ein sozialwissenschaftliches Behinderungsverst?ndnis ? letzteres gehe eine Allianz mit der UN-Behindertenrechtskonvention ein. Wrana weist hier u.a. auf die Ambivalenz der (tempor?ren) Deautonomisierung hin und fragt ? an Figuren der System- und Gouvernementalit?tstheorie angelehnt ?, ob die p?dagogische Inklusion unter Umst?nden ?als ein Ph?nomen im Bereich jener Grenze zu verstehen ist, an der die klassische Inklusionsleistung der gesellschaftlichen Teilsysteme neuerlich in die Krise ger?t?. Die Grenzen der P?dagogik vermessend arbeitet er heraus, dass Inklusion ?Anlass f?r ein kritisch-transformatives Projekt? sein k?nne, dies aber ein gesellschaftliches Projekt sein m?sse, in dem ?die Rolle von Bildung in modernen Gesellschaften als Ganze in Frage? und ?auf eine andere Grundlage? gestellt wird, als dies zurzeit ?mit Leistungssteigerung und Aktivierung? gefordert werde.
Thorsten Merl und Petra Herzmann stellen in ihrem Beitrag zu ?Inklusion und dis/ability? ?berlegungen aus der Perspektive einer differenztheoretischen Unterrichtsforschung an. Ausgehend von ihrem Forschungsinteresse nach der Funktion, die Differenzierungen entlang der Unterscheidung von f?hig/behindert in einem gegenw?rtig von schulischen Akteur*innen und Bildungspolitik als inklusiv bezeichneten Unterricht zukommt, nehmen sie eine methodologische Grundlegung vor. Einen zentralen Bezugspunkt bilden dabei Studien ethnographischer Unterrichtsforschung, die diskursive Praktiken des Differenzierens und Normalisierens rekonstruieren und eine kulturtheoretische Modellierung von Behinderung vornehmen. Entlang von ausgew?hlten Befunden dieser Forschungsrichtung, die Thorsten Merl und Petra Herzmann entlang von drei Foki systematisieren, er?rtern sie, welche Erkenntnisse sich aus den Untersuchungen ergeben hinsichtlich der funktionalen Unterscheidung dis/ability f?r die Aufrechterhaltung und Legitimierung einer unterrichtlichen Leistungsordnung.
Krassimir Stojanov geht der Frage nach, inwiefern Inklusion ein Imperativ von (Bildungs-) Gerechtigkeit ist. Dabei unterscheidet er zwei Gerechtigkeitsparadigmen in ihrer Bedeutung f?r die moralische Bewertung von schulischer Inklusion: einerseits die Leistungsgerechtigkeit, bei der es um die gerechte Verteilung von G?tern und Ressourcen geht, und andererseits die Anerkennungsgerechtigkeit, bei der die Wertsch?tzung aller Menschen im Vordergrund steht. W?hrend die Leistungsgerechtigkeit im meritokratischen Sinn nicht zwingend schulische Inklusion impliziere, seien schulische Segregation und Exklusion unter dem Gesichtspunkt von Anerkennungsgerechtigkeit hochgradig ungerecht. Denn die Kultivierung von Leistungsf?higkeit der Sch?ler*innen sei eine zentrale Aufgabe der Schule und setze Anerkennung als Empathie, Respekt und soziale Wertsch?tzung voraus, die nur in einem inklusiven Schulsystem f?r alle verwirklicht werden k?nne.
In seinem Beitrag ?Norm, Behinderung und Gerechtigkeit? nimmt Erich Otto Graf abschlie?end die drei dem Themenheft zugrundeliegenden Kernbegriffe auf und skizziert diskursive Verbindungslinien. Nach einer behinderungsbiographischen Einf?hrung entfaltet er zun?chst relationale Bez?ge zwischen den Begriffen Norm und Behinderung, indem er sie als kulturelle Konstrukte und kulturell stabilisierende Setzungen definiert, durch die gesellschaftliche Vorstellungen manifestiert und machtvoll abgesichert w?rden. Mit der Frage nach Normen ist also verbunden, wer sie setzen darf. In Relation dazu entwickelt Graf ein Verst?ndnis von Behinderung, das anti-essentialistisch und als politisch verankerte Setzung nicht erf?llter Erwartungen gebunden an Personen zu verstehen sei. Hierdurch werde Behinderung sozusagen zum sozialen Problem, das sich aus ?Diskrepanzen zwischen Wahrnehmung einer Situation und Erwartung, wie die Situation sein sollte? speist und die Frage aufwirft, wie gerecht diese in Bildungsorganisationen bearbeitet bzw. inwiefern diese hervorgerufen werden.
Karin Br?u (Mainz), J?rgen Budde (Flensburg), Andreas K?pfer (Freiburg) und Lisa Rosen (K?ln) im Juli 2019.
Die kommenden Themenhefte werden durch Gastherausgeber_innnenschaften gestaltet, weitere Beitr?ge k?nnen aber jederzeit ?ber die Plattform eingereicht werden.
[1] Nach der Vorjahrestagung an der Universit?t zu K?ln, die von den Initiator*innen der AG Inklusionsforschung in der DGfE organisiert wurde (siehe https://www.dgfe.de/sektionen-kommissionen/arbeitsgemeinschaft-inklusionsforschung.html), wurde diese zweite Arbeitstagung von einem erweiterten Kreis von Erziehungswissenschaftler*innen unterschiedlicher Subdisziplinen vorbereitet und durchgef?hrt. Dies waren im Einzelnen: Prof. Dr. Karin Bra?u (Universit?t Mainz), Manfred Bo?ge (CAU Kiel), Prof. Dr. Ju?rgen Budde (Universita?t Flensburg), Jun.-Prof. Dr. Andreas Ko?pfer (PH Freiburg), Adina Ku?chler (LMU Mu?nchen), Prof. Dr. Andrea Platte (TH Ko?ln), Prof. Dr. Lisa Rosen (Universit?t zu Ko?ln), Prof. Dr. Tanja Sturm (Universit?t Mu?nster) sowie Dr. Nadja Thoma (Universit?t Wien).
-
1-2019
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
Sie erhalten hiermit Zugang zur ersten Ausgabe von Inklusion-Online im Jahr 2019. wir haben uns diesmal entschieden, einen neugierigen Blick auf die Fragen zu werfen, die sich jungen Wissenschaftler*innen im Kontext der Inklusionsforschung aktuell stellen und den Nachwuchs gebeten, aus seinen Forschungszusammenh?ngen zu berichten ? auch vor dem Hintergrund des Eindrucks, dass den empirischen Befunden und wissenschaftlichen Erkenntnissen der Inklusionsforschung seitens der Akteure in Politik und Praxis bisweilen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Einen Schwerpunkt bildet dabei der analytische Blick auf spezifische Verh?ltnisse im kanadischen Schulsystem.
Lukas Doleschal und Anne Welslau stellen eine Studie an kanadischen Schulen vor. Dabei geht es um M?glichkeiten der Pr?vention und Intervention von Bullying (Mobbing) in schulischen Kontexten. Die Befunde verweisen auf den Zusammen-hang zwischen dem Ph?nomen und den strukturell-organisatorisch vorgegebenen Verh?ltnissen in Unterricht, Schule und sozialer Lebenswelt. Daraus k?nnen gegebenenfalls Schl?sse zu einer inklusionsorientierten und demokratischen Schulgestaltung, auch mit Blick auf die Verh?ltnisse in Deutschland, gezogen werden. Die Autor*innen entwickeln zun?chst einen theoretischen Bezugsrahmen f?r das Ph?nomen Bullying als ?soziales Interaktionsgef?ge in der (Zwangs)Gemein-schaft Schulklasse? unter Rahmenbedingungen, die durch spezifische Kontexte vor Ort bis auf die Ebene der Gemeinde und Nachbarschaft gepr?gt sind. Befragt wurden kanadische Lehrkr?fte zu den auf Bullying bezogenen und an den Schulen etablierten Methoden und Programmen. Die vielf?ltige Tradition in Kanada, Bullying pr?ventiv zu begegnen wird anhand zweier Schulen vorgestellt.
Johanna Ingenerf und Julian Zimmermann behalten den Blick auf kanadische Verh?ltnisse bei und analysieren interdisziplin?re Kommunikation im Unterricht auf Basis von Analysen in einer Schule in New Brunswicks. Gedanklicher Ausgangspunkt ist die ?berzeugung, dass die Bereitschaft und F?higkeit zur transprofessionellen Zusammenarbeit eine unverzichtbare Voraussetzung gelingende schulische Inklusion ist. In ihrem Beitrag nehmen die Autor*innen das Schulsystem der kanadischen Provinz New Brunswick unter Einbezug der Educational Governance Forschung in den Fokus, das bereits h?ufiger im international vergleichenden Inklusionsdiskurs zum Gegenstand der Betrachtung und Auseinandersetzung wurde. Mit der professionellen Zusammenarbeit ist dort keine getrennte Zust?ndigkeit f?r unterschiedliche Sch?ler*innen verbunden, was der sonderp?dagogischen Expertise eine im Vergleich zum Bildungssystem in Deutschland v?llig unterschiedliche Funktion und Bedeutung zukommen l?sst. Die Provinz New Brunswick zeichnet sich durch ein Schulsystem aus, in dem auf schulische Aussonderung jeglicher Art konsequent verzichtet wird. Wie dies in der Praxis des Unterrichtsalltags zu professionellen Herausforderungen f?hrt und wie diesen durch die professionell handelnden und miteinander interagierenden Akteure begegnet wird, dar?ber geben die Befunde zweier Expertinneninterviews Auskunft.
Auch Marie-Sophie R?der und Iris Schweizer haben kanadische Verh?ltnisse im Auge. Sie berichten von Beobachtungen, die sie auf einer 2w?chigen studentischen Exkursion nach Toronto und in die Provinz New Brunswick machen konnten. Dabei ging es nicht in erster Linie um Fragen der Vergleichbarkeit und ?bertragbarkeit von strukturell-organisatorischen oder praktischen Verh?ltnissen auf ein selektierendes Schulsystem, wie es nach wie vor in den deutschen Bundesl?ndern ?berwiegt, sondern um eine kritisch-reflektierende und produktiv-irritierende Beobachtung. Aus studentischer Sicht stehen dabei die M?glichkeiten und Grenzen der Erkenntnisgewinnung im Vordergrund sowie Erfahrungen, theoretische Zielsetzungen, bildungspolitische Rahmenbedingungen und p?dagogische Praxis vor Augen gef?hrt zu bekommen und aufeinander beziehen zu k?nnen. Dabei nutzt dieser Beitrag die Systematik des Index f?r Inklusion und geht speziell auf Beobachtungen rund um inklusive Kulturen, Strukturen und Praktiken ein, welche die Autorinnen w?hrend und nach der Exkursion als Irritationen und Frageanl?sse besch?ftigten.
Jacquelin Kluge von der Universit?t Bielefeld stellt die Befunde ihrer Masterarbeit vor. Im Zentrum steht die Frage, was es f?r gegenw?rtig und zuk?nftig Studierende bedeutet, wenn sich Rolle und Funktion der Profession Sonderp?dagogik angesichts eines sich inklusionsorientiert ver?ndernden Schul- und Unterrichtssettings ver?ndern und weiterentwickeln. Inwiefern provozieren die ver?nderten Rahmenbedingungen und bildungspolitischen Zielsetzungen das Professionsverst?ndnis von Studierenden der Sonderp?dagogik? Die qualitative Studie der Frage nach, welches Verst?ndnis Studierende des Studiengangs ?Integrierte Sonderp?dagogik? an der Universit?t Bielefeld von der Rolle sowie den Aufgaben der Sonderp?dagogik in inklusiven Settings haben. Die Ergebnisse der Befragung von f?nf Studierenden werden vorgestellt sowie im Hinblick auf die Professionalisierung in der universit?ren Lehrer*innenausbildung diskutiert. Unter inklusiven Settings werden Schulen oder Schulklassen verstanden, in welchen alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Somit liegt der Studie ein weiter Inklusionsbegriff zugrunde, der unterschiedliche Heterogenit?tsdimensionen im Blick beh?lt.
Auch Alina Quante analysiert im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Universit?t Bielefeld exemplarisch, wie eine Lehrkraft Gemeinsamen Unterricht bei bestehendem Unterst?tzungsbedarf im Bereich emotionaler und sozialer Entwicklung gestaltet. Die Herausforderungen (Bedenken und Vorbehalte) sind in diesem Feld nach Aussagen von Lehrkr?ften besonders gro?. Unter Bezugnahme auf theoretische sowie empirische Erkenntnisse sollen daraus praxisnah umsetzbare konzeptionelle und didaktische Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Grundlage ist die strukturierte Unterrichtsbeobachtung einer Grundschulklasse mit einem Sch?ler, der Unterst?tzungsbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung attestiert bekommen hat.Abschlie?end befasst sich Mirko Moll mit den unterschiedlichen Diskursen, in denen das Cochlea-Implantat jeweils unterschiedlich verhandelt wird. Dabei lassen sich widerspr?chliche, irritierende und provozierende Effekte feststellen, die Wirkungsweisen und Funktion von Cochlea-Implantaten aus einer inklusionstheoretischen Sicht auf den Pr?fstand stellen. Cochlea-Implantate erscheinen so nicht ohne Weiteres als technischer Beitrag zur (Wieder)Herstellung oder Erm?glichung gesellschaftlicher Teilhabe, vielmehr ist das Versprechen einer Normalisierung verbunden mit der stillschweigenden Hinnahme bestehender Inklusions-Exklusionsbedingungen. Mirko Moll fragt in seiner Abschlussarbeit aus einer techniksoziologischen Perspektive nach den materiellen und diskursiven Rahmungen, in denen CI-H?ren situiert ist und die zu ungewissen Wirkungen und vielf?ltigen Nutzungsweisen auf Seiten der Tr?ger*innen f?hren.
Wir w?nschen Ihnen eine anregende Lekt?re
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
f?r die Redaktion von Inklusion-Online
-
4-2018
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
wir freuen uns rechtzeitig zum Ende des Jahres 2018 die vierte Ausgabe von Inklusion-Online vorlegen zu k?nnen. Inklusive Entwicklungen sind in vielerlei Hinsicht inzwischen in schweres Fahrwasser geraten. Politisch gesehen kamen die Bem?hungen im Bildungsbereich weitgehend zum Stillstand und werden inzwischen von anderen Zielsetzungen ?berlagert und auch in gro?en Teilen des Fachdiskurses bekommt man den Eindruck, dass sich der Wind gedreht haben k?nnte, gibt es doch immer mehr nicht eigentlich kritische Debatten als vielmehr ideologisch gef?rbte Einlassungen, die inklusive Anspr?che pauschal als gescheitert, widerlegt oder auch ?berzogen halten. Dem sollte eine qualifizierte Inklusionsforschung etwas entgegensetzen und sich m?glichst nicht beirren lassen von Debatten, die zumeist auf einer Interpretation von Inklusion basieren, die die Herausforderungen des bestehenden rechtlichen Rahmens, der u.a. durch die UN-BRK repr?sentiert wird, weitgehend ignorieren oder in Frage stellen.
Matthias Windisch und Philine Z?lls-Kaser betrachten in ihrem Beitrag den Effekt sogenannter inklusiver Sportangebote von Sportvereinen f?r die Teilhabe im Gemeinwesen. Bezugspunkt sind die Evaluationsergebnisse eines Modellprojekts, die sich aus der Befragung der Nutzer*innen ergaben. W?hrend keine Unterschiede zwischen Teilnehmenden mit und ohne Behinderung hinsichtlich der Teilnahemotivation festgestellt werden konnten, zeigten sich Partizipationsm?glichkeiten und Einfl?sse auf die Beziehung zwischen Nutzer*Innen und ?bungsleitung sowie Auswirkungen auf die wechselseitige Wahrnehmung. Trotz der modellhaften Angebotsstruktur wird somit ein positives Res?mee gezogen, was die Resonanz in die Region anbelangt. Die Autoren sprechen sich f?r eine Professionalisierung der inklusionsorientierten Angebote aus, um diese langfristig, nachhaltig und kontinuierlich etablieren zu k?nnen.
Martina Hehn-Oldiges, Ulrike Sell und Patrik Widmer-Wolf geht es um Folgerungen, f?r die Aus- und Weiterbildung der Lehrer*innenbildung, die sich aus einer Inklusionsorientierung ergeben. Die Autor*innen nehmen dabei Bezug auf den Index f?r Inklusion, das Profil f?r inklusionsp?dagogisch t?tige Lerhkr?fte der European Agency for Development in Special Needs Education sowie die Reckahner Reflexionen zur Ethik in p?dagogischen Beziehungen zwischen Lehrpersonen und Sch?ler*innen. Inklusionssensibilit?t p?dagogischer Beziehungen bew?hrt sich dabei auf den Ebenen der Partizipation, des Feedbacks seitens der Lehrenden, der Normierungsprozesse, der Etikettierungs- und Zuschreibungen sowie des subjektiven Umgangs mit der eigenen emotionalen Befindlichkeit. Interaktionen von Lehrpersonen in ihrer eigenen Aus- und Weiterbildung k?nnen dabei f?r die eigene zuk?nftige Lehrpraxis genutzt werden, da sie Erfahrungsr?ume f?r die Reflexion guter oder problematischer Lehrpraxen der Dozierenden, Aus-oder Weiterbilder*innen bieten.
Kathrin Lemmer interessiert sich f?r Vorstellungen und Erfahrungen bez?glich p?dagogischer professioneller Kooperation im Kontext von inklusionsorientierter Unterrichtspraxis. Aus der Auswertung von Gruppendiskussionen mit Hilfe der Grounded Theory werden vier Typen von Kooperationsvorstellungen angehender Lehrkr?fte rekonstruiert. Inklusion wird dabei kontrovers diskutiert, insofern Lehrkr?fte theoretische Anforderungen und schulpraktische Umsetzungen sowie eigene Erfahrungen nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen k?nnen. Didaktisch und methodisch wird den ambivalenten Einstellungen und Erfahrungen auf Unterrichtsebene mit Differenzierung begegnet, wobei die ?Figur der Sonderp?dagog*innen als Differenzierungskraft wahrgenommen wird, ?welche durch eine ambivalente Charakterisierung als Vehikel zu Inklusion und durch gleichzeitige professionsbedingte Exklusionsmechanismen benannt wird?. Mangelnde Vorstellungen seitens der Regelschullehramtsstudierenden von der sonderp?dagogischen Fachlichkeit in inklusionsorientierten Kontexten f?hrt zu einer Vorstellung von Kooperation, die der Sonderp?dagogik die Zust?ndigkeit f?r Sch?ler*innen mit F?rderbedarf zuweist. Teamteaching auf Basis symmetrischer Beziehungen sind bislang kaum im Bewusstsein der Studierenden. Die Autor*innen sprechen sich f?r Forschungsaktivit?ten aus, die den aufgeworfenen Fragen weiter lehramtsspezifisch nachgehen, zudem besteht ein Kenntnisbedarf ?ber die Vorstellungen von Sonderp?dagog*innen. Durch eine Erweiterung der Perspektive auf die zweite Ausbildungsphase k?nnten Implementationen f?r die Lehrer*innenbildung umfassender konzipiert werden und der Fokus dar?ber hinaus auch auf die Fort- und Weiterbildung von Lehrkr?ften erweitert werden.
Anna Maria Loffredo und Robert Schneider-Reisinger bleiben gewisserma?en beim Thema und legen einen provokanten Essay vor, der die Chancen und Risiken f?r den Lehrberuf angesichts der beobachtbaren Ver?nderungen in Richtung Inklusion mit sich bringt. Die Situation der ?sterreichischen wie der deutschen Lehrerbildung im Blick, beziehen die Autor*innen ihre disziplinspezifischen allgemeinp?dagogischen und kunstdidaktischen Sichtweisen dialogisch aufeinander. Es geht auch um die Frage nach der Eignung f?r einen Lehrberuf angesichts der Herausforderung, im Sinne der UN-BRK eine barrierefreie Lehre f?r alle zu gestalten. Bestehende Anforderungen m?ssen vor dem Hintergrund inklusiver Schulstrukturen reflektiert und ggf. ver?ndert werden (Stichwort: Teamteaching).
Robert Schneider f?hrt in seinen Reflexionen zur Rolle und Bedeutung der Kategorie Fremdheit in inklusiver P?dagogik die bildungstheoretischen und ?philosophischen ?berlegungen fort, die zu einer ?berwindung dichotomen Denkens und Wahrnehmens in p?dagogischen Handlungskontexten f?hren sollen. Unter Bezugnahme auf Karl Marx und Georg Simmel wird die Denkfigur ?Fremdheit? in ihrer Bedeutung f?r (Identit?ts)Bildung thematisiert. Fremdheit verliert im Zuge der Diskussion ihren unterstellten Charakter als Eigenschaftsbeschreibung und erweist sich vielmehr als ?Verortung eines Verh?ltnisses?.
Kerstin Merz-Atalik f?hrt in ihrem abschlie?enden Beitrag die unregelm??ige Reihe der L?nderbetrachtungen in Inklusion-Online fort. Auf Basis aktueller Daten zur schulischen Inklusion in Baden-W?rttemberg wird eine kritische Analyse der Effekte politischer Ma?nahmen und Strategien (insbesondere reformierte Schulgesetzgebung und Einf?hrung eines Elternwahlrechts) vorgelegt, die im Kontext der Anwendung der UN-BRK eingeschlagen wurden. Dabei steht Baden-W?rttemberg beispielhaft f?r die Tatsache, dass sich im Berichtszeitraum F?rderquoten ebenso wie Segregationsquoten erh?hen. Das bedeutet im Ergebnis, dass sich Integration und Segregation nicht als Nullsummenspiel erweisen, sondern sich wechselseitig sogar bedingen k?nnen, was die praktizierte Governance ?inklusiv? genannter Schulentwicklung vor dem Hintergrund der Aufgabenstellung, die sich aus der UN-BRK ergibt, in Frage stellt.
Wir w?nschen Ihnen eine anregende Lekt?re und ein entschleunigtes Jahresende.
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
f?r die Redaktion von Inklusion-Online
-
3-2018
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
die nunmehr vorliegende dritte Ausgabe von Inklusion-Online in 2018 befasst sich schwerpunktm??ig mit dem Zusammenhang zwischen der Tradition des institutionalisierungskritischen Diskurses der Antipsychiatrie auf der einen und Inklusion als gesamtgesellschaftliche Herausforderung f?r ein menschenrechtskonformes Zusammenleben und soziale Koh?sion auf der anderen Seite.Oliver Koenig stellt gleich zu Beginn die grundlegende These in den Raum, dass menschliche Entwicklung nur in Freiheit m?glich ist. Am Beispiel der alltagsbezogenen Betreuungs- und Begleitungspraxis von und mit Menschen mit psychischen Erkrankungen eines Vereins in ?sterreich verdeutlicht er die Erfahrungen mit einer Praxis, die mit einer Beziehungsgestaltung einhergeht, welche von der Ber?cksichtigung von Selbstbestimmung und wechselseitigem Respekt voreinander gekennzeichnet ist. Im Wortsinne ?hilfreiches? professionelles Handeln, das konzeptionell auf das gestalttherapeutische Konzept der ?Guten Form? von Zinker zur?ckgreift, erhebt den Anspruch, die Beziehung zwischen Professionellen und ambulant begleiteten Erwachsenen mit psychischer Erkrankung theoretisch und erfahrungsbasiert weiterzuentwickeln. Die zugrundeliegende Studie analysiert zun?chst die Forschungstradition, sowie das praktische Beziehungsverh?ltnis im Handlungsfeld und untersucht dann systematisch die Wirkungen und Faktoren, die die Beziehungsgestaltung zwischen professionellem Handeln und begleiteten Menschen mit psychischer Erkrankung pr?gen. Mit Blick auf die Inklusionsp?dagogik muss festgestellt werden, dass die hier verhandelte Thematik zur Lebens- und Unterst?tzungssituation von Erwachsenen mit psychischer Erkrankung bislang nur eine randst?ndige Rolle spielt.
Christiane Carri nimmt die Reformgeschichte der Psychiatrie in den Blick und fragt nach den Kontexten, in denen die beschreibbaren Prozesse jeweils eingebettet waren. Vor diesem Hintergrund verortet sie die Bedeutung des Inklusionsparadigmas in der heutigen reformierten Psychiatrie. Im Mittelpunkt steht dabei ?Ex-In?, ein reformpsychiatrisches Projekt, das beispielhaft die These best?tigt, dass die traditionellen wesentlichen Grunds?tze der psychiatrischen Ordnung bislang durch erfolgte strukturelle Ver?nderungen und kritische Debatten, kaum ver?ndert wurden. Der Inklusionsdiskurs, so die Diagnose, hat f?r psychiatrische Patient*innen bislang kaum zu Statusverbesserungen gef?hrt, im Gegenteil m?ssen menschenrechtsverletzende Praxen wie Zwangsbehandlungen, Zwangsmedikationen oder Freiheitsentzug immer noch zu deren erlebten Alltagserfahrungen gez?hlt werden. Demgegen?ber bilden sozialpsychiatrische Projekte und Konzepte ein deutliches Gegengewicht. Besondere W?rdigung findet hierbei der Begriff des Expertentums aus Erfahrung, der auf die Antipsychiatriebewegung zur?ckgef?hrt werden kann und mittlerweile in Konzepte sozialpsychiatrischer Versorgung Eingang gefunden hat.
Mai-Anh Boger befasst sich unter Bezugnahme auf den Begriff der Depathologisierung mit dem Problem der Diagnostik emotionaler und sozialer Entwicklung in Handlungskontexten, die einen inklusiven Anspruch f?r sich erheben. Damit misst sie die Praxis im F?rderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung an einem Ma?stab, der konsequenterweise ?ber das Bem?hen um Dekategorisierungen hinaus gehen muss und auf die ?berwindung pathologisierenden Denkens gerichtet sein sollte. W?hrend im Zuge der Rezeption der Disability Studies Konzepte sozialer oder kultureller Modelle von Behinderung begonnen haben, sonderp?dagogisches Selbstverst?ndnis einer kritischen Reflexion gegen?ber zu ?ffnen, lassen sich solche Tendenzen in Diskursen um seelische Behinderungen und psychische St?rungen bislang kaum beobachten. Der vorliegende Artikel skizziert, was eine notwendige und ?berf?llige kritische Betrachtung diagnostischer Systeme f?r den F?rderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung konkret bedeuten w?rde. Dabei fragt Mai-Anh Boger, welche Konsequenzen eine Pathologisierungskritik f?r diagnostische Prozesse hat und was dies f?r die Ausbildung diagnostischer Kompetenz gerade auch in schulischen Kontexten bedeuten k?nnte.
Ausgehend von einem erweiterten Inklusionsbegriff und dem Forderungsprogramm der antipsychiatrischen Bewegung gewinnt Maryam Laura Moazedi Ma?st?be f?r eine Dekonstruktion enthozentrischer Normalismen, die Grundlage und Voraussetzungen f?r eine als notwendig erachtete Entpathologisierung sind. Dabei wird der Diskurs der antipsychiatrischen Bewegung der 1960er Jahre auf aktuelle Inklusionsdebatten bezogen, was spannende gedankliche Ankn?pfungspunkte zu Tage treten l?sst. Die Autorin sieht dabei die Chance, ?ethnozentrisch konstruierte Normen in der Psychiatrie und ihren Nachbardisziplinen Psychologie und Psychotherapie ins Bewusstsein zu r?cken?. Beispielhaft aufgezeigt wird die Logik und Dynamik impliziter ethnozentrischer Konzepte in der Stichprobenzusammensetzung von Studien zu Somatisierung und Schizophrenie sowie in den Praxen der Gespr?chsf?hrung in den entsprechenden Handlungskontexten. Die Forderungen der Antipsychiatrie k?nnen dabei Kriterien liefern, tradierte bin?re Norm- und Abweichungsvorstellungen zu hinterfragen.
Sophie C. Holtmann, Pierre-C. Link und Marie-Luise Fischer nehmen in der Rubrik Kontrovers gegen?ber den ?brigen Beitr?gen in dieser Ausgabe eine Gegenposition ein und wenden sich gegen Dekategorisierungsbem?hungen im Inklusionsdiskurs. Psychiatrien werden als notwendige tempor?re ?bergangsorte f?r besonders vulnerable Menschen angesehen, wobei ihr Status unter inklusionsorientierten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen variiert. Der Beitrag spricht sich ausdr?cklich f?r den Erhalt von Termini wie psychische Krankheit, Verhaltensst?rung oder Verhaltensauff?lligkeit aus. Die darauf bezogene Diagnostik gr?ndet, so die These, auf einem Verst?ndnis der Menschenw?rde als traditionelles Wertfundament der Psychiatrie. Es bedarf einer philosophisch und ethisch reflektierten Forschung, die der Psychiatrie in ihrer Funktion und hinsichtlich ihrer Potenziale in Bezug auf soziale und gesellschaftliche Teilhabe gerecht wird.
Als weitere Themenschwerpunkte der folgenden Ausgaben sind geplant:
4/2018 Inklusionsforschung im Spiegel akademischer Qualifizierungsarbeiten
Wir w?nschen Ihnen eine anregende Lekt?re.
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
f?r die Redaktion von Inklusion-Online -
2-2018
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
anbei pr?sentieren wir ihnen, wie angek?ndigt, den zweiten Teil unserer Zusammenstellung von frei eingereichten Beitr?gen, die wir zun?chst zu keinem der vorab geplanten Schwerpunktausgaben zuordnen konnten. Wie sich herausstellte, konnten die Beitr?ge jedoch unter dem Gesichtspunkt Schule und Unterricht auf der einen Seite und eher grundsatzfragenbezogenen Themenstellungen mit einem besonderen Blick auf die Handlungsfelder Wohnen und Arbeit auf de anderen Seite systematisiert werden. Deshalb freuen wir uns, Ihnen hiermit zeitnah die zweite Ausgabe von Inklusion-Online in diesem Jahr pr?sentieren zu k?nnen.
Karolina Goschiniak widmet sich der Bedeutung gruppendynamischer Prozesse f?r eine inklusionsorientierte p?dagogische Praxis. Diese psychodynamische Betrachtung von Gruppenbildungsprozessen untersucht, wie p?dagogische Situationen zu inkludierenden und/oder exkludierenden Verh?ltnissen beitragen k?nnen. Der Beitrag zielt darauf ab, entsprechend eines unter inklusiven Vorzeichen erforderlichen Paradigmenwechsels, ver?nderte Anspr?che an p?dagogisches Handeln angesichts innerpsychischer Prozesse im Gruppenhandeln zu erheben. Haltungen von Fachkr?ften spielen dabei eine wichtige Rolle hinsichtlich ihres Effekts auf die Gruppe. ?F?r die p?dagogischen Fachkr?fte ergibt sich dadurch ein erweitertes Anforderungsprofil, das nicht nur aus den institutionellen Vorgaben und Normen besteht, sondern vielmehr durch entsprechende F?higkeiten wie Selbstreflexion, Szenisches Verstehen oder die Wahrnehmung des kindlichen Erlebens gepr?gt ist, um so f?rderliche inklusive Ma?nahmen abzuleiten. Durch die Ber?cksichtigung des Erlebens der Kinder, also einem Perspektivenwechsel, ist es oftmals erst m?glich herauszufinden, ob eine Situation als ausgrenzend erlebt wird?.
Nora Gaupp, Sandra Ebner, Sandra Sch?tz und Folke Brodersen nehmen den Stand der quantitativen Jugendforschung in den Blick, insoweit er sich mit Fragen der Inklusion und Jugendlichen mit Behinderung befasst. Dabei wird zun?chst deutlich, dass in der traditionellen quantitativ orientierten Jugendforschung Jugendliche mit Behinderungen oder solchen in anderen besonderen Lebenslagen oftmals wenig Beachtung gefunden haben. Die Autor*innen ?berpr?fen ihre These, dass die Jugendforschung von einer inklusiven Perspektive (noch) weit entfernt ist, durch eine Rekonstruktion des Stellenwerts und der Bedeutung, die Jugendliche mit Behinderung in zentralen Jugendstudien zukommt. Was m?sste sich ?ndern, wenn die quantitative Jugendforschung dem Anspruch inklusiv(er) zu werden, entsprechen m?chte? Der letzte Abschnitt des Textes diskutiert, welche Fortschritte, aber auch welche Grenzen und Widerspr?chlichkeiten bei einer st?rkeren inklusiven Ausrichtung der Jugendforschung zu erwarten sind.
Karin E. Sauer befasst sich mit Disability Studies im Handlungsfeld von Behinderung und Sexualit?t. Aus der Perspektive der Disability Studies werden Menschen mit ?Behinderung? nicht mehr als Objekte, sondern als handlungsf?hige Subjekte wahrzunehmen. Im Bereich der Sexualit?t tr?gt eine diversit?tsbewusste Haltung dazu bei, die Differenzlinien Sexualit?t und Behinderung aus einer menschenrechtlichen Perspektive zu reflektieren. Der Autorin geht es darum, zu beschreiben, wie eine machtkritische Sensibilisierung zur Wahrnehmung von Bed?rfnissen und Grenzen f?hren kann, auf deren Grundlage Pr?ventionsm?glichkeiten von (sexueller) Gewalt bei Menschen mit Behinderungen abgeleitet werden k?nnen.
Hendrik Trescher arbeitet in seinem Beitrag heraus, inwiefern Versorgungsstrukturen des Behindertenhilfesystems in Deutschland als behindernde Praxen wirksam werden. Am Beispiel des Wohnens in station?ren Einrichtungen der Behindertenhilfe verdeutlicht er, inwiefern sich in diesem Kontext Behinderungspraxen vollziehen, Behinderung sozial konstruiert und reproduziert wird. Ausgehend von diesem Verst?ndnis von Behinderung als sich diskursiv vollziehende Praxis, wird ein Inklusionsmodell skizziert, das diesen Behinderungspraxen gegenl?ufig ist. ?Inklusion ist in diesem Sinne die Dekonstruktion von Diskursteilhabebarrieren, welche immer auch kritisch ist, da sie auf eine Ver?nderung gesamtgesellschaftlicher Strukturen und Praxen abzielt?.
Schlie?lich begr?ndet Hauke Behrendt inklusions- und wertetheoretisch die berufliche Qualifikation von Menschen mit kognitiven Beeintr?chtigungen durch technische Assistenzsysteme am Arbeitsplatz. Der Beitrag diskutiert die Chancen und den moralische Wert entsprechender technologischer Entwicklungen im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion zur beruflichen Inklusion mit Blick auf Menschen mit kognitiven Beeintr?chtigungen. Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass der m?gliche Erfolg beruflicher Inklusion ?einen ethisch hinreichenden Grund darstellt, diese Systeme am Arbeitsplatz einzusetzen beziehungsweise ihren Einsatz zu bef?rworten?.
Als weitere Themenschwerpunkte der folgenden Ausgaben sind geplant:
3/2018 Anti-Psychiatrie und Inklusion
4/2018 Inklusionsforschung im Spiegel akademischer Qualifizierungsarbeiten (Studentische Ausgabe)
Wir w?nschen Ihnen eine anregende Lekt?re.
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
f?r die Redaktion von Inklusion-Online
-
1-2018
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
immer wieder erreichen uns interessante Beitr?ge zu inklusionsbezogenen Fragestellungen, die thematisch nicht in die aktuell angesetzten Schwerpunktsetzungen der Ausgaben passen oder auch den begrenzten Rahmen selbst einer Online-Ausgabe sprengen. Um diesen Beitr?gen dennoch gerecht werden zu k?nnen, behalten wir uns in unregelm??igen Abst?nden vor, Ausgaben von Inklusion-Online ohne eigenen spezifischen ?bergreifenden Schwerpunkt anzusetzen. Es sind so viele hochwertige Beitr?ge eingegangen, dass wir ihnen die beiden ersten Ausgaben in 2018 widmen werden.
In der Ausgabe 2018/1, die wir Ihnen hiermit gerne pr?sentieren, finden Sie Aufs?tze, die sich im Schwerpunkt mit Schule und Unterricht befassen. In der Ausgabe 2018/2 werden Beitr?ge gesammelt, die sich Grundlagenfragen sowie mit den Handlungsfeldern Wohnen und Arbeit auseinandersetzen.
Anne Piezunka, Cornelia Gresch und Michael Wrase betrachten zun?chst die Datenlage zur Umsetzung der UN-BRK in Deutschland im Bereich schulischer Inklusion und unterziehen sie einem kritischen Blick. Auch die Vielzahl empirischer Studien, die sich mit p?dagogischen und schulorganisatorischen Fragen auseinandersetzen, ist jedoch auf bestimmte Regionen beschr?nkt, was bundesl?nder?bergreifende Aussagen verunm?glicht. Zudem werden in der Regel nur Teilaspekte von Inklusion untersucht. Mit diesem Beitrag soll infolgedessen eine Br?cke zwischen den in der UN-BRK formulierten Anforderungen und der empirischen Bildungsforschung geschlagen werden. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie sich die Umsetzung von Art. 24 BRK durch quantitative und qualitative Erhebungen ?berpr?fen lassen k?nnte.
Christopher Mihajlovic setzt sich mit der Rolle des sonderp?dagogischen F?rdersystems in Finnland auseinander. Gemeinhin gilt Finnland angesichts der internationalen PISA-Studien als Vorbild f?r ein institutionelles Inklusionsbem?hen im Bildungsbereich. Dabei gilt es genau hinzusehen und aktuelle Ver?nderungen und Entwicklungen auf bildungspolitischer Ebene in Finnland zu ber?cksichtigen. Mit der Beschreibung der aktuellen Reformen im sonderp?dagogischen F?rdersystem in Finnland ist die Absicht verbunden, Ankn?pfungspunkte f?r die Inklusionsdebatte im deutschsprachigen Raum zu finden. Den Hintergrund der Argumentation bilden teilnehmende Beobachtungen des finnischen Unterrichtsalltags durch den Autor, der dabei eine spezifische F?rderkultur in Finnland unter die Lupe nehmen konnte.
Ebenfalls?ber den nationalen Tellerrand hinaus schaut Hans Karl Peterlini. Am Beispiel von S?dtiroler Schulen reflektiert er ?ber die gelebte Inklusionspraxis im italienischen Schulsystem. Ausgangspunkt der Untersuchung auf Basis von Unterrichtsbeobachtungen ist die 40j?hrige Erfahrung mit praktizierter Integration in einer Einheitsschule, wie sie in Italien existiert. Gleichwohl ist es wichtig, hier eine (selbst)kritische Bestandsaufnahme zu wagen und nach zuk?nftigen Potenzialen und Verbesserungen inklusiver Praxisstrategien zu suchen. Die Unterrichtsvignetten fangen exemplarisch Momente von Ein- und Ausschluss im Unterrichtsgeschehen ein und bieten die M?glichkeit der inklusionsorientierten Reflexion. ?Ph?nomenologische Wahrnehmung wird als eine Forschungsperspektive vorgestellt, die anstelle normativer Setzungen die Normalit?t konkreter Lebenswirklichkeit als Ausgangspunkt nimmt und durch diese Anerkennung des Gegebenen zu Normalisierungsvollz?gen beitr?gt?.
Carsten Bender und Birgit Drolshagen betrachten inklusionsorientierte Entwicklungen in der Neuausrichtung der Lehramtsausbildung im Rahmen des Forschungsprojektes DoProfiL an der TU Dortmund. Es geht ihnen dabei sowohl darum, spezifische Studien- und Lernsituationen von Studierenden mit Behinderung nicht zu ?bersehen, als auch darum, Inklusion nicht nur als optimierte Integration von Behinderung zu begreifen. F?r eine zukunftsorientierte Lehramtsausbildung bedarf es nicht zuletzt sowohl einer inklusionsorientierten Hochschullehre als auch einer diversit?tssensiblen Hochschulentwicklung insgesamt.
Michaela Sindermann bezieht die Diskurse der soziologischen Ungleichheitsforschung (Bildungsungleichheit) und der Soziologie sozialer Probleme (Bildungsgerechtigkeit) auf den Kontext der Kunstp?dagogik, um ein gemeinsames Begriffsverst?ndnis inklusiver P?dagogik zu entwickeln. Auch die Kunstp?dagogik blickt auf eine lange Tradition separierender F?rderung einerseits (Bildungsungleichheit) und eine ungerechten Verteilung k?nstlerischer und ?sthetischer Bildung andererseits (Bildungsgerechtigkeit) zur?ck. Als Orientierungsrahmen f?r eine inklusive Kunstp?dagogik schl?gt die Autorin ein Modell der Teilhabegerechtigkeit vor. Eine inklusionsorientierte und bildungsgerechte Kunstp?dagogik bedarf einer Theorieperspektive, die auf die auf Ressourcenentfaltung der Lernenden zielt.
Monika Musilek, Gordan Varelija und Monika Miller stellen ihr Entwicklungsprojekt HdMa (Haus der Mathematik) on tour zum entdeckenden Lernen mathematischer Problemstellungen mit hands-on exhibits vor, das sich an differenzierten Lernzug?ngen orientierte. Diese Lernzug?nge sollten eine niedrigschwellige und dennoch entdeckende Herangehensweise f?r Kinder mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen erm?glichen und somit die Individuallage der Kinder ber?cksichtigen. Der Beitrag pr?sentiert die methodische Anlage und Weiterentwicklung der HdMa on tour und l?sst die didaktische Systematik nachvollziehbar werden.
Laura R?del und Toni Simon thematisieren in ihrem Beitrag das Verh?ltnis von Sprachbildung und inklusionsorientierter (Schul-)P?dagogik. Die Autor*innen zeichnen Argumentationslinien in der aktuellen Forschungsliteratur aus dem Bereich der Sprachbildung nach, mit denen begr?ndet wird, warum Sprachbildung als immanenter Teil von Inklusion verstanden werden kann bzw. sollte. Weiterhin wird ansatzweise der Frage nach dem m?glichen Charakter einer inklusionsorientierten Sprachbildung nachgegangen. In Bezug auf deren Konstitution werden offene Fragen und Forschungsperspektiven formuliert.
Als weitere Themenschwerpunkte der folgenden Ausgaben sind geplant:
2/2018 Grundlagenfragen und Handlungsfelder Wohnen und Arbeit
3/2018 Anti-Psychiatrie und Inklusion
4/2018 Inklusionsforschung im Spiegel akademischer QualifizierungsarbeitenWir w?nschen Ihnen eine anregende Lekt?re.
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
f?r die Redaktion von Inklusion-Online -
4-2017 Raum und Inklusion
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, Ihnen die vierte Ausgabe von Inklusion-Online in 2017 an die Hand geben zu k?nnen.
Inwiefern ist Inklusion als theoretisches Konzept und/oder normative Handlungsorientierung aus raumtheoretischer und raumsoziologischer Sicht bedenkenswert? Und welche Auffassung von Raum und R?umlichkeit legt ein Inklusionsverst?ndnis nahe, das sich der Anwendung der UN-Konvention ?ber die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) verschreibt?
Das Schwerpunktthema der vorliegenden Ausgabe geht zur?ck auf die ?Freiburger Methodengespr?che? an der P?dagogischen Hochschule Freiburg, die sich im April 2017 mit ?Raum und R?umlichkeit im Kontext von Heterogenit?t und Inklusion? auseinandergesetzt haben. Andreas K?pfer und Georg Ri?ler, die auch beide in dieser Ausgabe mit eigenen Beitr?gen vertreten sind, widmeten den Freiburger Fachtag den Raumbegriffen, in denen sich Inklusions- und Exklusionsordnungen h?ufig ausdr?cken, und nach deren theoretischen wie methodischen Implikationen f?r inklusionsorientierte Erziehungswissenschaften. Dabei ist festzustellen, dass die Verflechtungen von Raum, Heterogenit?t und Inklusion in wissenschaftlicher Hinsicht bislang bestenfalls randst?ndige Beachtung gefunden haben. Die Reden vom ?Spatial Turn? und von ?Inklusion? haben jeweils f?r sich Konjunktur, ohne jedoch bisher differenziert und systematisch aufeinander bezogen worden zu sein. In Ankn?pfung an diese Fragen und den genannten Fachtag vereint die vorliegende Ausgabe Beitr?ge, die erste theoretische Kl?rungen, empirisch grundierte Interpretationen und diskutierbare Positionen vornehmen m?chten.
J?rgen Budde und Georg Ri?ler beobachten, dass schulische Transformationsprozesse im Zeichen inklusiver Bem?hungen mit einer nicht zuletzt r?umlichen Pluralisierung von Unterricht einhergehen. ?ber das althergebrachte Klassenzimmer hinaus findet inklusionsorientierter Unterricht h?ufig an unterschiedlichen Orten in unterschiedlichen Formen statt. Die ver?nderte Bedeutung des Klassenraums f?r eine inklusionsorientierte Unterrichtsforschung erfordert die Unterscheidung von Raum und R?umlichkeit. Die Tendenzen der r?umlichen Differenzierung und Pluralisierung von Unterricht in ?gr??ere? Konstellationen m?nden hierbei keineswegs notwendigerweise in einem ?inklusiven gemeinsamen Unterricht? f?r alle. Vielmehr setzen sie neue Differenzierungspraktiken in Gang. Der Beitrag stellt sich die Frage nach der unterrichtstheoretischen Bedeutung im Zusammenhang mit Inklusion/Exklusion.
Andreas K?pfer sucht nach theoretischen Ankn?pfungspunkten und Anschlussf?higkeiten der Diskurse um Inklusion, Behinderung und Raum und illustriert seinen Ansatz an einem empirischen Beispiel. Raumproduktion und Raumaneignung vollziehen sich unter inklusionsorientierten Vorzeichen etwa ?ber professionelle Kooperationsprozesse. Aktuelle Schulentwicklungsprozesse mit einem inklusionsorientierten Anspruch verlangen dabei nach einer relationalen Auffassung von Behinderung. Auf Basis dieser Annahme werden mittels raumanalytischer Bez?ge zu Raumproduktion und Raumaneignung beispielhaft kooperative Praktiken von Sonderp?dagog*innen und Regelp?dagog*innen in inklusionsorientierten Schulen in Baden-W?rttemberg analysiert.
Hendrik Trescher und Teresa Hauck setzen ebenfalls an einem relationalen Raumverst?ndnis an. Raum wird demnach in Aneignungspraxen durch Subjekte hervorgebracht, w?hrend diese ihrerseits in einem Verh?ltnis wechselseitiger Gleichzeitigkeit als ?Aneignungssubjekte? subjektiviert werden. Menschen, die als ?behindert? bezeichnet werden, haben h?ufig nur eingeschr?nkte M?glichkeiten zur Raumaneignung bzw. k?nnen sich Raum mitunter nur als ?Territorium der Anderen? aneignen. Eine solche Aneignung erfolgt dann zumeist buchst?blich ?ber Sonderwege. Im Beitrag wird sowohl theoretisch als auch anhand der Betrachtung von Fallbeispielen dargelegt, inwiefern eingeschr?nkte Aneignungsm?glichkeiten von Raum als Behinderungspraxen wirksam werden. Schlussendlich wird diskutiert, wie Raum und Inklusion relational zusammenh?ngen bzw. was f?r ein Verst?ndnis von Inklusion notwendig ist, um Inklusion in Theorie und Praxis relational zu denken. Raumsoziologische Theorien k?nnen einen Beitrag leisten zur (Be)Deutung von Behinderung und deren Verschiebung. Raum ist dabei nicht vordergr?ndig auf die Dimension seiner materiellen Ausdehnung zu reduzieren, sondern erweist sich als sozial, historisch und hierarchisch dimensioniertes Terrain, auf dem Bedeutungen machtvoll ausgehandelt werden.
Anke Langner und Karin Mannewitz bestimmen mithilfe der Bezugstheorien von Pierre Bourdieu und Michel Foucault, Raum als Ergebnis von sozialen Aushandlungsprozessen, die von Machtverh?ltnissen durchzogen sind. Der Beitrag vertieft damit den Ansatz einer relationalen Interpretation von R?umlichkeit und widerspricht dem reduktionistischen Konzept des Raums als Container. Raum wird als soziales Konstrukt, welches durch Wissensordnungen und die Interaktionen von Menschen gepr?gt ist, entworfen. Vor diesem Hintergrund erscheint es den Autorinnen notwendig, bei der Herstellung von Raum st?rker die subjektive Perspektive auf den Raum und deren Verstrickung mit den jeweils herrschenden Machtverh?ltnissen zu fokussieren.
Die macht- und herrschaftskritische Perspektive setzt Tobias Buchner in seinem Beitrag auf Basis empirischer Materialien fort. Er entfaltet zun?chst einen heuristischen Rahmen, der sich aus macht- und f?higkeitskritischen sowie raumtheoretischen ?berlegungen zu Schule zusammensetzt. Diese Perspektive wird anschlie?end auf ein Forschungsprojekt an drei Schulen in Wien bezogen. Dabei wird anhand einer ethnographischen Collage nachgezeichnet, wie Sch?ler*innen die Subjektposition ?Integrationskind? konstruieren und auf welche p?dagogischen Praktiken sie referieren. Verr?umlichte Praktiken spielen hierbei ?ber ableistische Grenzziehungen eine bedeutsame Rolle. Die Raumordnung des Unterrichts wird mit der des Pausenhofs verglichen, um zu analysieren, inwiefern sich die erw?hnten Praktiken produktiv auf die Sozialit?t von Peers auswirken.
Tobias Buchner vertieft anschlie?end die empirische Ausrichtung in einem weiteren Beitrag, in dem er das Zusammenspiel von M?nnlichkeit und F?higkeit an einer Neuen Mittelschule in Wien untersucht. Dazu wird der Blick auf einen Sch?ler gerichtet, der durch spezifische Praktiken von M?nnlichkeit die marginalisierenden Effekte der inferioren Subjektposition ?Integrationskind? vermeiden und stattdessen sich einen Platz an der Spitze des sozialen Gef?ges seiner Klasse erarbeiten kann. Dabei werden die Verhandlungen von F?higkeit und M?nnlichkeit aus einer theoretischen Perspektive heraus betrachtet, die sich aus f?higkeitskritischen Konzepten aus den Disability Studies, dem Modell hegemonialer M?nnlichkeit sowie raumsoziologischen ?berlegungen zusammensetzt.
Martin Nugel bezieht sich bei seiner Betrachtung der dialektischen Verschr?nkung von Diskursen um Inklusion und Raum auf J?rgen Habermas. Das als konstitutiv f?r das Inklusionsparadigma postulierte Theorem der ?Einbeziehung des Anderen? wird als Herausforderung f?r die r?umliche Organisation und Strukturierung von Bildungslandschaften beschrieben. Der Beitrag m?chte den Blick f?r die ?utopischen ?bersch?sse? der Produktion und Aneignung inklusionsorientierter und heterogenit?tssensibler Bildungsr?ume sch?rfen.
Christian Timo Zenke arbeitet in seinem Beitrag die Aspekte der Flexibilit?t und Durchl?ssigkeit p?dagogischer R?ume als raumbezogene Rahmenbedingungen inklusiver Didaktik am Beispiel der Laborschule Bielefeld heraus. Diskutiert werden zun?chst ausgew?hlte Schulraummodelle wie ?Klassenraum plus?, ?Cluster? und ?Offene Lernlandschaft?. Im Anschluss daran wird am Beispiel der Laborschule Bielefeld die konkrete Nutzung eines explizit als Lernlandschaft konzipierten Schulgeb?udes untersucht. Inwieweit tragen die R?umlichkeiten sowohl zur Verwirklichung eines adaptiven und binnendifferenzierten Unterrichts bei als auch zur Umsetzung des betreffenden Unterrichts im Co-Teaching sowie zur Herstellung von Gemeinsamkeit s?mtlicher Sch?lerinnen und Sch?ler im allt?glichen Schulleben?
Silke Schreiber-Barsch r?ckt in ihrem Beitrag institutionalisierte Einrichtungen der Erwachsenenbildung unter den Aspekten von Planung und Organisation von Lehren und Lernen in den Mittelpunkt. Im Zentrum steht die Frage, wie die R?umlichkeit des Handelns von professionell T?tigen an institutionalisierten Lernorten auf das Ziel einer Gestaltung von inklusionsorientierten Settings wirkt. Die Ergebnisse einer explorativ-qualitativen Erhebung mit professionell T?tigen an Lernorten Erwachsener zeigen anschlie?end an eine relationale Raumtheorie die Varianz der erwachsenenp?dagogischen Umsetzung dieser Agenda auf das Territorium eines Lernortes auf.
Benjamin Wagener und Monika Wagner-Willi hinterfragen abschlie?end die Ans?tze zur Umsetzung von Bildungsreformen in Schule und Unterricht, die auf Inklusion zielen. Sie schlagen vor, die Programmatik von der Praxis der Inklusion zu unterscheiden und das soziale Handeln in seinem performativen Vollzug selbst zu rekonstruieren. Vor dem Hintergrund raumtheoretischer ?berlegungen kommt hierbei raum-bezogenen Praxen besondere Bedeutung zu. Der Beitrag geht dem Aspekt des Performativen im Rahmen der Methodologie einer praxeologischen Wissenssoziologie nach. Auf der Basis von kontrastierenden Unterrichtsvideografien zu Leistungslogiken in unterschiedlichen Schulformen wird dargelegt, wie mit der Zuschreibung von Leistungsdifferenzen eine differente Zuweisung und Nutzung von ?Territorien? im Goffmanschen Sinne einhergehen. Die eingespielten performativ-r?umlichen Praxen sind mit Prozessen der Marginalisierung und der Privilegierung von Sch?lerinnen und Sch?lern verbunden und lassen zudem Machtstrukturen erkennen, die sich der Aushandlung entziehen.
Eine anregende Lekt?re w?nschen Ihnen
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
f?r die Redaktion von Inklusion-Online
F?r 2018 sind bisher folgende Ausgaben geplant
(Arbeitstitel, ?nderungen vorbehalten):
1/2018 Auswahl frei eingereichter Beitr?ge
2/2018 Anti-Psychiatrie und Inklusion
3/2018 Inklusionsforschung im Spiegel akademischer Qualifizierungsarbeiten
-
3-2017
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
in der Ausgabe 3/2017 von Inklusion-Online m?chten wir einen vielperspektivischen Blick auf Inklusion werfen. Dazu haben wir KollegInnen verschiedener Disziplinen der LehrerInnenbildung versammelt und sie gebeten, das Themenfeld Inklusion aus der Sicht des spezifischen Diskurses ihrer Fachdisziplin sowie ihrer eigenen inklusionsspezifischen Zug?nge zu werfen. Dazu geh?ren verschiedene Fachdidaktiken der sozial-, geistes-, sowie mathematisch-naturwissenschaftlichen F?cher, der Sonderp?dagogik und der Berufliche Bildung. Die Beitr?ge stehen im Kontext des Promotionsprogramm ?Didaktische Forschung? an der Leibniz Universit?t Hannover, in dessen Rahmen StipendiatInnen und Kollegmitglieder zu gesellschaftlichen Herausforderungen von Teilhabe, Diversit?t und Partizipation im Kontext von ?Citizenship in inklusiven Gesellschaften? arbeiten. Methoden der Lehr-Lern-Forschung integrieren hierbei subjektorientierte Zug?nge zu Lernendenvorstellungen. So kann multiperspektivisch ein Verst?ndnis von Inklusion als disziplinenspezifische und -?bergreifende Chance, Herausforderung und Entwicklung in Schule und Bildung herausgearbeitet werden.
Das Promotionskolleg ?Didaktische Forschung? ist zudem Bestandteil des 2017 gegr?ndeten Leibniz Forschungszentrums ?Inclusive Citizenship? an der Leibniz Universit?t Hannover. In diesem Kontext, sowie im Rahmen des Projekts ?Leibniz-Prinzip? der Qualit?tsoffensive LehrerInnenbildung, welches die F?rderung reflektierter Handlungsf?higkeit in der LehrerInnenbildung zum Ziel hat, verkn?pfen die AutorInnen in den vorliegenden Beitr?gen ihre interdisziplin?ren Arbeitszusammenh?nge. Die AutorInnen fokussieren vor diesem Hintergrund Herausforderungen, die sich in Ihrer Fachdisziplin f?r die Umsetzung von Inklusion in Theorie, Unterrichtspraxis und Ausbildung angehender LehrerInnen bietet, jedoch auch spezifische Konzepte und Handlungsm?glichkeiten, die in den jeweiligen Disziplinen entwickelt und diskutiert werden. Den Leserinnen und Lesern bietet sich damit die M?glichkeit f?r einen inklusionsspezifischen Einblick in verschiedene LehrerInnenbildungsdisziplinen.
Annika Bierwirth, Gabriele Blell und Stefanie Fuchs zeigen im Beitrag der Englischdidaktik werden zun?chst diskursbestimmende Facetten von Diversit?t im gegenw?rtigen Fremdsprachenunterricht auf, die f?r die Gestaltung eines inklusiven Englischunterrichts zu ber?cksichtigen. Darauf aufbauend wird ein Beispiel aus der inklusiven Unterrichtspraxis einer 8. Klasse skizziert (Welcome to NY! - Ellis Island) sowie erste empirische Ergebnisse aus einer Erhebung von Pr?konzepten bei Sch?ler*innen zum Thema Understanding Unfamiliar Words vorgestellt (ebenfalls 8. Klasse).
Thomas Gawlick und Anne Hilgers arbeiten ausgehend von einem ?berblick ?ber aktuelle Forschungsans?tze und Spannungsfelder der Mathematikdidaktik die besonderen Anforderungen f?r einen inklusiven Mathematikunterricht heraus. Sie stellen daf?r mit dem Bielefelder Konzept zur Diagnose und F?rderung bei Rechenschw?che einen wichtigen Baustein vor und erl?utern am konkreten Beispiel den Hannoveraner Ansatz zur Vermittlung dieses Konzepts bereits in der ersten Phase der Lehrerausbildung.
Julia Gillen und Jana Wende richten ihr Augenmerk auf die berufliche Bildung und geben einen ?berblick ?ber den gegenw?rtigen Stand in den drei zentralen Kontexten der Berufsorientierung, des ?bergangs von der Schule in den Beruf bis hin zur dualen Berufsausbildung. Anschlie?end beleuchten sie genauer die diskursbestimmenden, etablierten Konzepte der beruflichen Bildung in Werkst?tten und an Produktionsschulen und dem gegen?ber die modernen Konzepte der Bildungsgangarbeit und des Individualisierten Lernens. Als Spannungsfelder auf der Ebene des Bildungssystems skizzieren die Autorinnen die spezifischen F?rderma?nahmen am ?bergang Schule Beruf sowie die Marktsteuerung der dualen Berufsausbildung und diskutieren, inwiefern diese wirklich inkludierend oder nicht vielmehr exkludierend sind. Als Herausforderung in der Lehre und Unterrichtspraxis gehen die Autorinnen insbesondere auf die Einstellungen und Haltungen der Lehrenden ein und verweisen in ihrer Schlussbetrachtung auf die Potentiale einer inklusiven Berufsausbildung.
Alice Junge und Bettina Lindmeier stellen in ihrem Artikel die Bedeutsamkeit von inklusiven Lernerfahrungen in der ersten Phase der Lehrerbildung f?r die Entwicklung einer professionellen Haltung heraus. Beschrieben wird dazu zun?chst das besondere Seminarkonzept, welches den Studierenden des Fachs Sonderp?dagogik solche Lernarrangements bietet. Aus den Ergebnissen des dazu durchgef?hrten qualitativ-rekonstruktiven Forschungsprojekts lassen sich erste Konsequenzen f?r eine inklusionssensible Lehrerbildung formulieren.
Malte Kleinschmidt fokussiert insb. den f?r die politische Bildung zentralen den Begriff Citizenship und leitet daraus die Forschungsperspektive Inclusive Citizenship. Ziel ist es, mit dem Ansatz von Inclusive Citizenship einen Impuls f?r einen herrschaftskritischen, dynamischen und hegemonietheoretisch fundierten Begriff von Inklusion herauszuarbeiten.
Vor dem Hintergrund der Aktivit?ten im Bereich des Sachunterrichts und der inklusiven Didaktik beleuchten Maren Oldenburg und Claudia Schomaker die Anbahnung von F?higkeiten zum sensiblen Umgang mit und Wahrnehmen von Diversit?ten Lernender mit Fallbeispielen. Unter R?ckgriff auf das Modell der didaktischen Rekonstruktion wird das Ziel einer (Weiter-)Entwicklung des Konzepts Reflektierter Handlungsf?higkeit fokussiert. Dabei sind insbesondere die Auseinandersetzungen der Studierenden mit Aussagen und Erfahrungen zum gemeinsamen Lernen von Sch?lerInnen inklusiver Schulklassen von Bedeutung, die sowohl in Bezug zu den eigenen Professionalit?tsvorstellungen ?ber den LehrerInnenberuf gesetzt, als auch im Hinblick auf eigene biographische Erlebnisse reflexiv bearbeitet werden.
Aus Sicht der Germanistik thematisieren Kristin Tschernig und My Hanh Vo Thi die Rolle von Sprache f?r die Inhalte des Faches und das Konzept des sprachsensiblen Fachunterrichts. Dabei besteht das Ziel darin, einen Fachunterricht zu gestalten, der allen Sch?lerInnen die (sprachliche) Teilhabe erm?glicht. Der sprachsensible Fachunterricht als zentrales Konzept wird nach einem exemplarischen Blick in ausgew?hlte F?cher in seinen Grundz?gen dargestellt.
Malte Walkowiak und Andreas Nehring skizzieren Problemstellungen des Diskurses um Inklusion innerhalb der Naturwissenschaftsdidaktiken. Es zeigt sich, dass ? trotz der Spezifik der naturwissenschaftlichen Unterrichtsf?cher - zahlreiche Elemente naturwissenschaftsdidaktischer Theorien und unterrichtsrelevanter Entwicklungen geeignet sind, die Herausforderungen inklusiven naturwissenschaftlichen Lernens zu fokussieren, aber weiterentwickelt und implementiert und erprobt werden m?ssen. Desiderate in den Bereichen der Forschung und der Implementation in die Praxis werden benannt und diskutiert.
Wir w?nschen Ihnen eine anregende Lekt?re.
Andreas Nehring und Dirk Lange
Gastherausgeber -
2-2017
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
mit der Ausgabe 2/2016 von Inklusion-Online haben wir damit begonnen, ein Zwischenres?mee zum Stand der politischen Diskussion und praktischen Umsetzung schulischer Inklusionsprozesse im deutschsprachigen Raum zu ziehen. Den Anfang machten dabei kritische Sachstandsberichte aus Baden-W?rttemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Sachen, Sachsen-Anhalt und Th?ringen. Dieser Blick erf?hrt nun in dieser Ausgabe durch die Perspektiven aus Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und dem Saarland eine Fortsetzung. Dar?ber hinaus enth?lt die Ausgabe eine Betrachtung schulischer Inklusion in der Schweiz. Erg?nzt wird das Schwerpunktthema durch frei eingereichte Beitr?ge zu spezifischen inklusionstheoretischen Aspekten.
Am Anfang werfen Stefanie Bosse und Jennifer Lambrecht einen Blick auf die Entwicklungen in Brandenburg von der Wende ?ber die FLEX-Einf?hrung bis zum gegenw?rtigen Pilotprojekt PING und den Ver?nderungen in der Lehrerinnenbildung.Rolf Werning und S?ren Thoms schlie?en sich an mit kritischen Anmerkungen zum Stand des Umgangs mit Forderungen der UN-Behindertenrechtskonvention im Schulsystem des Landes Niedersachsen. Welche rechtlichen Anpassungsprozesse haben hierbei zu welcher Art von Ver?nderungen beigetragen und wie lassen sich F?rder- und Integrationsquoten inzwischen statistisch abbilden? Ebenso wird ein Blick auf Reformen im Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkr?ften geworfen. Niedersachsen hat seit dem Schuljahr 2013/2014 dem Gesetz nach inklusive Schulen. Im Zuge dessen wurden F?rderschulen in F?rderzentren umgewandelt und die Aufgaben und Rollen von Sonderp?dagoginnen und ?p?dagogen erfuhren eine entsprechende Modifikation.
Birgit L?tje-Klose, Phillip Neumann und Bettina Streese ziehen f?r Nordrhein-Westfalen Bilanz nach sieben Jahren ratifizierter UN-BRK. Ziel der seit 2010 bestehenden rot-gr?nen Landesregierung ist es (schul-)gesetzliche Ver?nderungen auf den Weg zu bringen, die die Dominanz der exklusiven Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit sonderp?dagogischen Unterst?tzungsbedarfen ?berwinden. Gew?rdigt werden die finanziellen, konzeptionellen und gesetzgeberischen Ma?nahmen. Die Autor*innen machen jedoch auf zahlreiche Rekontextualisierungsprozesse im Entwicklungsverlauf aufmerksam, die strukturell-oragnisatorisch d?r die einzelne Schule, wie auf der Ebene des Unterrichts sp?rbar werden. ?Dem Land ist letztlich Mut zu w?nschen f?r politische Beschl?sse, die Doppelstrukturen abbauen und einen gezielteren Einsatz der finanziellen und personellen Ressourcen erm?glichen w?rden?.
David Scheer und D?sir?e Laubenstein von der Universit?t Paderborn sowie Christian Lindmeier, Kirsten Guth?hrlein und Dirk Sponholz von der Universit?t Koblenz-Landau betrachten die Situation in Rheinland-Pfalz. Sie machen einleitend darauf aufmerksam, dass L?ndervergleiche immer eine Reflexion der jeweils unterschiedlichen Interpretationen von Inklusion zum Ausgangspunkt haben m?ssen und politische, gesetzgeberische oder strukturelle Entwicklungen immer im Lichte der jeweils zugrunde gelegten Auffassung von Inklusion interpretiert geh?ren. F?r Rheinland-Pfalz konstatieren die Autor*innen ein Inklusionsverst?ndnis, das sich prim?r auf die Differenzkategorie Behinderung fokussiert. Unter W?rdigung der fr?hen Verdienste des Landes um Umsetzungsma?nahmen, ziehen Die Autor*innen eine kritische Bilanz, wonach die ?Erfolge der Schwerpunktschulen sehr differenziert betrachtet werden m?ssen, weswegen eine Kurzfassung der Ergebnisse aus der Begleitforschung kaum m?glich erscheint?. Noch kaum in Angriff genommen ist die Reform von Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrkr?ften. Das Ende 2015 verabschiedete Gesetz zur St?rkung inklusiver Kompetenzen von Lehrkr?ften stellt dabei einen ersten Schritt dar, dessen Auswirkungen jedoch dringend systematisch wissenschaftlich begleitete geh?ren.
Robert Kruschel und Christine Pluhar beschreiben f?r Schleswig-Holstein die lange und dabei zugleich kontinuierliche bildungspolitische Entwicklung in Richtung eines integrativeren und inklusionsorientierten Schulsystems. Die Autor*innen w?hlen ein empirisch-beschreibendes Vorgehen und stellen die konkreten Ma?nahmen und dadurch ausgel?sten Ver?nderungen im Land dar. Dabei orientieren sie sich am Ma?stab der UN-BRK, der in Art. 24 sowohl ein inklusives BIldungssystem f?r alle Menschen als auch angemessene Vorkehrungen f?r Menschen, die als behindert adressiert und damit in besonderer Weise Teilhabebarrieren ausgesetzt sein k?nnen, vorsieht. Der eingeschlagene Blickwinkel gewinnt einen besonderen Reiz durch den unterschiedlichen Erfahrungshintergrund der beiden Autor*innen, der zum einen eine inklusionstheoretische und zum anderen eine bildungspolitische Perspektive in Schleswig-Holstein aufeinander bezieht.
Irmtraud Schnell skizziert die Situation im Saarland r?ckblickend und rekonstruiert ihre Geschichte. Im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit stehen neben den jungen Menschen mit Behinderung die jeweiligen politischen Akteur*innen und die beteiligten Organisationen. Herausgearbeitet werden die treibenden und bremsenden Kr?fte, die zu einer in sich widerspr?chlichen und ambivalenten Entwicklung gef?hrt haben. Auch die Rolle der Wissenschaft und ihre Verantwortung ger?t dabei in den Blick.
Bruno Achermann und seine Kolleg*innen Sandra D?ppen aus den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Land, Caroline Sahli-Lozano vom Kanton Bern sowie Alois Buholzer und Fabienne Hubmann vom Kanton Luzern beleuchten die Situation in der Schweiz. Dabei sind auf nationaler Ebene regional unterschiedliche Entwicklungen festzustellen, die einen internationalen L?ndervergleich schwierig erscheinen lassen. Die je besonderen strukturellen Rahmenbedingungen der Bildungssysteme mit ihren spezifischen Herausforderungen werden f?r die Kantone Basel-Stadt, Basel-Land, Bern und Luzern jeweils gesondert zusammenfassend dargestellt. Ebenso eingegangen wird auf besonders hervorzuhebende Beispiele sowie auf Aspekte der Lehrer*innenausbildung.
Tanja Sturm, Mathias Weibel und Sandra Wlodarczyk stellen ein Simulationsspiel vor, das im Rahmen des Lehramtsstudiums Wege er?ffnen soll, die zuk?nftige eigene professionelle Rolle hinsichtlich ihrer ungleichheitsreproduzierenden Funktion zu reflektieren. Soziologische Grundlagen sollen dabei bereits in einer fr?hen Phase des Lehramtsstudiengangs vermittelt werden. Das entwickelte Simulationsspiel hat zum Ziel, den Studierenden einen konkreten Zugang zu Bourdieus ?berlegungen zur Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Schule und Unterrichtspraxis zu erm?glichen. Der Beitrag stellt den methodischen Ansatz dar, erg?nzt um Erfahrungen von Studierenden und Lehrenden und zieht Schlussfolgerungen hinsichtlich der M?glichkeiten und Grenzen des hochschuldidaktischen Mediums.
Als weitere Themenschwerpunkte der folgenden Ausgaben sind geplant:
Raum und R?umlichkeit
Wir w?nschen Ihnen eine anregende Lekt?re.
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
f?r die Redaktion von Inklusion-Online -
1-2017
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, Ihnen hiermit die erste Ausgabe von Inklusion-Online in 2017 an die Hand geben zu k?nnen. Inzwischen l?sst sich, nach den Reaktionen auf den Ersten Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland und den seit Inkrafttreten der UN-BRK vielf?ltig erfolgten und kritisierten politischen und praktischen Umsetzungsma?nahmen, ein verst?rktes Bed?rfnis nach theoretischer Selbstvergewisserung in den Fachdebatten um eine inklusionsorientierte gesellschaftliche Entwicklung beobachten. Dies wollten wir zum Anlass nehmen, der vorliegenden Ausgabe einen entsprechenden theoretischen Schwerpunkt zu verleihen, der einige Schlaglichter auf aktuelle theoretische Reflexionen des Inklusionsbegriffs wirft.
Will der von der UN-BRK ausgehende Impuls mehr sein als ein unverbindlicher Aufruf zur selektiven Optimierung der Integration von Menschen mit Behinderungen im Bildungssystem, so scheint ein kritisches Nachdenken ?ber die gesellschaftstheoretischen Grundlagen und aktuellen Bedingungen sozialen Wandels, die den Inklusionsdiskurs ebenso rahmen wie die sich auf ihn berufenden Akteure von ihnen gepr?gt werden, unverzichtbar. Nicht nur dort, wo eine inklusive Praxis auf Skepsis oder gar Ablehnung st??t, sondern auch da, wo sie sich als ?L?sung? gesellschaftlicher ?Probleme? anbietet, scheint ein kritischer Blick auf die Repr?sentation der Problemstellung selbst, durchaus angeraten. Es l?sst sich kaum von dem Verdacht ablenken, dass unter den Bedingungen einer Abstiegsgesellschaft (Oliver Nachtwey) gar nicht die Absicht besteht, eine inklusionsorientierte Entwicklung zu verfolgen. Sind doch nicht so sehr Vorurteile gegen Menschen mit Behinderung das hervorstechendste Problem, auch nicht die ?nat?rlicherweise? begrenzten finanziellen Handlungsspielr?ume, sondern eine sich zunehmend unverbl?mte entsolidarisierende Gesellschaft. Soziale Distinktion avanciert zum bevorzugten Hebel der Selbstvergewisserung f?r diejenigen, die sich in einer Zone der Verwundbarkeit (Castel) wiederfinden und vermeintlich oder tats?chlich ihre Felle davon schwimmen sehen. ?Der arbeitsw?tige Selbstproduktivismus ist das Merkmal eines wettbewerblichen Selbst, das offenbar keine M?glichkeit sieht, im Umgang mit Unsicherheit, Abstiegsangst und intensivierter Markvergesellschaftung soziale und solidarische Wege zu finden? (Nachtwey, 166).
Eine ?berblickshafte Systematisierung von Theoriezug?ngen zu Inklusion in einem kritischen und politischen Verst?ndnis legt Mai-Anh Boger vor. Ihr Interesse gilt vornehmlich der (Re-)Politisierung eines Inklusionsbegriffs im Sinne von Differenzgerechtigkeit und Diskriminierungsfreiheit, der den Dialog mit ?Betroffenenbewegungen? praktiziert. Verbunden ist ihr Ansatz mit einem provokativen Angebot zur Reflexion der Selbstpositionierung in Sachen Inklusion und Diskriminierungs(forschung), das eine transdisziplin?re Perspektive auf positionierte Produktionen von Widerstandswissen er?ffnet. Grundlage ihrer ?berlegungen bildet ein Projekt, das die unterschiedlichen Theoriezug?nge zu Inklusion sammelt, analysiert und systematisiert. Mai-Anh Boger unterscheidet dabei Inklusion im Sinne von Empowerment, von Normalisierung und von Dekonstruktion. Dabei gelangt sie zu einer "trilemmatischen" Schlussfolgerung, was bedeutet, dass sich jeweils bestenfalls zwei dieser Positionen aufeinander beziehen lassen und die jeweils dritte einen theoretisch-logischen Widerspruch bildet. Diese Perspektive erlaubt nicht nur einen erhellenden Blick auf den Stand und Verlauf der Diskussion(en) um Inklusion, sondern er?ffnet auch (zumindest die Hoffnung) auf eine kritische Perspektive zuk?nftiger Diskriminierungsforschung, die sich einer differenzsensiblen Haltung in reflexiver Weise bedient.
Uwe Becker verdeutlicht in seinem Beitrag seine Rede von der Inklusionsl?ge als gesellschaftliche Verschleierung der systemimmanten Exklusionslogiken, die hier am Schulsystem und am Arbeitsmarkt beispielhaft aufgezeigt werden. Zun?chst wird die juristische Bedeutung der ratifizierten UN-BRK als Staatsverpflichtung, aus der nicht zwangsl?ufig individuelle Rechte abgeleitet werden k?nnen, skizziert. Dem entspricht die bisher hierzulande zu beobachtende sogenannte Inklusionspolitik, die sich in vielen F?llen auf einen am Primat weitgehender Kostenneutralit?t orientierten Appell an die Zivilgesellschaft beschr?nkt. Im Bereich Schule f?hrt diese Argumentationsstrategie u.a. dazu, den Besuch einer Regelschule als vollzogene Inklusion zu werten und vom geforderten Blick auf die Qualit?t des Regelschulbetriebs abzulenken. Ebenso erweist sich das Tripel-Mandat der Werkst?tten, bestehend aus Rehabilitation, Qualifizierungs- und Integrationsleistung als widerspr?chlich in Bezug auf die inklusionstheoretische Herausforderung. Sowohl die strukturellen Bedingungen des Schulsystems wie der institutionalisierte Umgang mit Menschen mit Behinderung in Bezug auf deren Integration in den Arbeitsmarkt erscheinen jedoch als systemimmanent logisch, insofern sie die einem flexiblen Kapitalismus angemessenen Voraussetzung zur Systemreproduktion sicherstellen. Damit aber erweisen sich Inklusionsrhetoriken als Verschleierungsstrategien im Dienste der Systemstabilisierung. Sie immunisieren sich sowohl gegen eine theoretische Reflexion der Grundlagen des gesellschaftlichen Verh?ltnisses von Inklusion/Exklusion als auch gegen eine politische Kritik, die darauf abzielt, jene Systeme von Grund auf zu ?ndern.
?Robert Schneider untersucht bildungsphilosophisch und -theoretisch die Bildsamkeit der Person in ihrer Bedeutung f?r eine inklusionsp?dagogische Theorie und Praxis. Unter Bezugnahme auf Sterns Kritischen Personalismus entwirft er ein Konzept von Bildsamkeit, das in Verbindung mit Anerkennung als Bedingung der M?glichkeit von personalem Handeln aufscheint und auf diese Weise progressives Potenzial zu entfalten vermag. Dabei zeigt sich zugleich auch das kritische Potenzial einer so begr?ndeten Inklusionsp?dagogik, insofern Wert- und Bewertungslogiken in Bildungsprozessen diesem Verst?ndnis zuwiderlaufen. Anerkennung erfordert die Mitwirkung der Person an ihrer Bestimmung im Sinne eines M?glichkeitsraumes, wodurch jeglicher allein von au?en auferlegter begrenzender Bestimmung von Bildung eine Absage erteilt ist. "Grenzen werden aber (...) dann als notwendig auszuweisen sein, wenn diese aus der inneren Entscheidung einer Person heraus zur Erm?glichung der Selbstbestimmung eines Du beitragen k?nnen".
Sven B?rmig pl?diert f?r eine Reflexion der Konzeptualisierung von Inklusion/Exklusion in Bezug auf Schule und Bildung in der wissenschaftstheoretischen Tradition kritischen Denkens. Er kn?pft zu diesem Zweck auf Basis der Rezeption (sonder)p?dagogischer und inklusionsp?dagogischer Literatur gedankliche Ansatzpunkte, die alles inklusionstheoretische Wissen (und Handeln) als notwendigerweise gesellschaftstheoretisch verortet und unhintergehbar reflexionsbed?rftig begreift. Orientiert an Adorno spricht er sich f?r eine theoretische Fassung eines Inklusionsverst?ndnisses aus, die sich auf Vorstellungen von Autonomie und M?ndigkeit beruft, was sich in letzter Konsequenz in der gesellschaftlichen Praxis erst noch erweisen muss.
Wir w?nschen Ihnen eine anregende Lekt?re.
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck?
f?r die Redaktion von Inklusion-Online
-
4-2016
Editorial zum Heftthema - Sammelausgabe 4/2016Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
zunehmend erreichen uns frei eingereichte interessante Einzelbeitr?ge, die bisweilen den Rahmen einer Schwerpunktausgabe sprengen w?rden. Mit der letzten Ausgabe in 2016 von Inklusion-Online haben wir uns daher daf?r entschieden, diesmal keinen spezifischen thematischen Schwerpunkt zu verfolgen. Die vorgelegten Beitr?ge eint dennoch eine gewisse Sto?richtung: Gemeinsam ist ihnen ein kritisch-konstruktiver Blick auf den Stand und die Verfassung der Inklusionsforschung, unter anderem in methodischer Hinsicht.
J?rgen Budde, Nina Blasse und Svenja Johannsen unterziehen die beobachtbaren Perspektiven praxistheoretischer Inklusionsforschung, bezogen auf den Schulunterricht, einer methodischen und theoretisch reflektierten Kritik. Ausgehend von Diagnosen eines defizit?ren Forschungsstands, verfolgen sie ihre Fragestellung mit Hilfe einer vergleichenden Meta-Analyse von f?nf unterschiedlichen ethnographischen Projekten, die den Schulunterricht und dessen Einbettung in inklusionsorientierte schulische Systembedingungen praxistheoretisch reflektiert. Sie beobachten entlang der Variablen Dis/Ability, Leistung und unterrichtlichen Verhaltens situativ je unterschiedliche Weisen der (Neu)Sortierung und (Wieder)Besonderung in der p?dagogischen Praxis inklusionsorientierten Schulunterrichts. In diesem neu austarierten und doch gleichzeitig erneuerten Verh?ltnis zwischen Inklusivit?t und Exklusivit?t vermissen die Autor*innen intersektionale, machtkritische Impulse. Es wird f?r eine Praxeographie pl?diert, die neben beobachtbaren Aktivit?ten beteiligter Akteur*innen auch auf empirische Daten zur Rekonstruktion von diskursiven und materiellen Dimensionen zur?ckgreift.Regine Schelle untersucht die Schl?sselfunktion und Position von Kita-Leitungen hinsichtlich erforderlicher beruflicher Kompetenzen und konkreter Arbeitsbedingungen f?r inklusive Prozesse. In Professionalisierungsdiskussionen, bezogen auf das Handlungsfeld der Fr?hp?dagogik, l?sst sich ein Blick auf die Bedeutung der Leitungsebene eher beobachten. Gleichwohl vollziehen sich Change Management und Prozesse der Organisationsentwicklung nie losgel?st von der Leitungsebene. Welche Voraussetzungen finden Kita-Leitungen eigentlich vor, um ihrer Rolle und den damit verbundenen Erwartungen im Zuge inklusiver Prozesse gerecht werden zu k?nnen? Regine Schelle vergleicht die Erwartungen, die an Kita-Leitungen im Zuge der Inklusionsforderungen gestellt werden, mit den vorhandenen beruflichen Kompetenzen und konkreten Arbeitsbedingungen und zieht daraus ihre Schl?sse f?r die weitere Professionalisierung des fr?hp?dagogischen Leitungshandelns.
Lisa D.H. Schmidt befasst sich mit dem Foschungsstand zu schulischer Assistenz in Deutschland und bezieht dabei Aspekte internationaler Forschungsbefunde mit in ihre Betrachtung ein. Festzustellen ist zun?chst die immense Variationsbreite der rechtlichen Regelungen schulischer Assistenz in Deutschland, die zu erheblich unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen schulischer Teilhabe f?hrt. Zusammengefasst werden die zwischen 2009 und 2016 in Deutschland erhobenen Befunde zur Thematik, unter Ber?cksichtigung von 12 quantitativen und 4 weiteren Studien mit unterschiedlicher methodischer Vorgehensweise. Sie repr?sentieren den empirischen Forschungsstand zur Schulbegleitung, wie er sich durch eine systematische Recherche gegenw?rtig zeigt. Dabei geraten die Rahmenbedingungen f?r die T?tigkeit schulischer Assistenz, ihre definierten Aufgabenbereiche sowie die Wahrnehmung der Ma?nahme durch die beteiligten Akteur*innen in der Praxis in den Blick. Es zeigt sich eine komplexe Aufgabenzuschreibung, ohne verbindliche Regelungen in Bezug auf die Kooperation der Akteur*innen, trotz ihrer offensichtlichen Bedeutung f?r das Gelingen von Inklusion in der Praxis. Abschlie?end formuliert die Autorin einen weiteren Forschungsbedarf unter Bezugnahme auf die Erkenntnisse, die die internationale Forschungslage bereit stellt.
Tobias Feldhoff zielt in seinem Beitrag auf theoretische und empirische Herausforderungen an eine Schulentwicklungsforschung in Deutschland, angesichts der unterschiedlichen zu beobachtenden Entwicklungen in den einzelnen Bundesl?ndern. Neben der Ber?cksichtigung der f?deralen Rahmenbedingungen verweist er auf den Einbezug aller Ebenen des Schulsystems, als da sind: regionale/kommunale Bedingungen, die einzelne schulische Institution sowie die Ebene der konkreten Unterrichtspraxis. F?r Deutschland stellt der Autor Forschungsdefizite und Forschungsbedarfe ?ber die Folgen der Ver?nderungsprozesse fest, die inklusive Entwicklungsbestrebungen bislang gezeitigt haben. Der Beitrag strebt die Formulierung eines Forschungsprogramms zur Transformation inklusiver Schulsystementwicklung auf der Basis des aktuellen Forschungsstandes an. Der Fokus liegt hierbei auf zentralen Forschungsfragen, die sich aufdr?ngen, sowie auf den theoretischen und methodischen Anforderungen, die sich f?r ein entsprechendes Forschungsdesign ergeben.
Abschlie?end hinterfragt Joachim Schroeder das Bild, das hierzulande von Kanada als oft zitiertes Vorbild f?r Inklusion gezeichnet wird. Er kritisiert dabei die bisweilen wenig reflektierte empirische Basis, die der hiesigen Rezeption der kanadischen Verh?ltnisse zugrunde gelegt ist. Risiken einer verzerrenden Wahrnehmung und Interpretation bestehen etwa in der regionalen Begrenztheit, die die erziehungswissenschaftliche Berichterstattung in Deutschland ?ber Kanada aufweist. Bildungsteilhabebedingungen und Bildungserfolge werden ?berwiegend getrennt voneinander untersucht. Bestehende politische Widerspr?che und empirische Ungereimtheiten werden in der entsprechenden Berichterstattung kaum betrachtet. Zudem f?hrt eine dichotome Vergleichsperspektive oft zu einer wenig differenzierten pauschalisierenden Gegen?berstellung deutscher und kanadischer Systembedingungen. Auf der Basis eigener Erfahrungen vor Ort unterzieht Joachim Schroeder in seinem Beitrag die kanadischen Verh?ltnisse einer differenzierten Betrachtung, die es erlaubt, den skizzierten Rezeptionsgewohnheiten eine sowohl kritische als auch weiterf?hrende Erkenntnisdimension hinzuzuf?gen. An Beispielen zu den Problemen der Beschulung von First Nations, sozial sehr benachteiligten Kindern und Jugendlichen, Sch?ler*innen mit einer Behinderung sowie von Rassismus betroffenen jungen Afrocanadians werden bildungspolitische und p?dagogische Paradoxien diskutiert aber auch gelungene Beispiele pr?sentiert.
Als weitere Themenschwerpunkte der folgenden Ausgaben sind geplant:
Theoretische Perspektiven im Inklusionsdiskurs
Schulische Inklusion im deutschsprachigen Raum II
Citizenship und InklusionWir w?nschen Ihnen eine anregende Lekt?re.
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
f?r die Redaktion von Inklusion-Online -
3-2016
Editorial zum Heftthema Inklusion und SportGeht es im Kontext des Inklusionsprozesses um gesamtgesellschaftliche Ver?nderungsprozesse, r?cken damit unweigerlich auch die Kulturph?nomene Bewegung, Spiel und Sport in den Fokus der Betrachtung. Der Sport gewinnt als gesellschaftlich relevantes, sich wandelndes Handlungsfeld in wachsendem Ma?e an Bedeutung ? man denke beispielsweise an die virale Zunahme medialer Berichterstattung sportlicher Gro?ereignisse (Horky & Nieland, 2013), den anhaltenden Fitnessboom (Andreasson & Johansson, 2014) oder auch die immer gr??ere Popularisierung von Sportbekleidung und sportlichem Habitus als modischem Trend (Alkemeyer & Schmidt, 2003). In einer scheinbar gleicherma?en immer k?rperloser sowie zunehmend diffus werdenden Alltagswelt r?ckt der K?rper und mit ihm k?rperliche Praxen aus dem Kontext des Sports vermehrt in den Fokus gesellschaftlicher Individuen. Die eigene K?rperkultur wird vielfach zu einem identit?tsstiftenden Projekt. Gesellschaftliche Ver?nderungen im Sinne von Inklusion sind von daher sicherlich auch auf der Folie des Sports zu reflektieren.
Bislang wird Inklusion im deutschen Sprachraum nach Herz (2014, S. 7) jedoch vor allem als schulische Strukturdebatte diskutiert. In diesem Themenheft soll von daher unter dem Titel Sport und Inklusion der Blick explizit geweitet werden, indem m?glichst vielf?ltige Facetten von Bewegung, Spiel und Sport aus einer inklusiven Perspektive diskutiert werden. Entsprechend kommen neben grundsatztheoretischen Beitr?gen zu alternativen Forschungsparadigmen, zur Relevanz von Mehrperspektivit?t und zum (sportlichen) Leistungsbegriff gleicherma?en ?berlegungen zum Leistungssport, zum Vereinssport, zum informellen Sport, zum Schulsport sowie zur sog. Betroffenenperspektive zur Sprache.
Dabei zeichnet sich der Sport im Kontext der Inklusionsthematisierung durch ein spezifisches ihm eigenes Spannungsverh?ltnis aus: Einerseits wird ihm ? beispielsweise im Positionspapier des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) und der Deutschen Sportjugend (DSJ) zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen (2013, S. 12) ? gemeinhin ein hohes Inklusionspotential zugeschrieben, andererseits ist dieses jedoch wissenschaftlich kaum belegt. Zudem werden im gesellschaftlichen Handlungsfeld ?Sport? zentrale Aspekte wie Leistung, K?rperlichkeit, Fitness und Gesundheit, die zweifellos zum ?Markenkern des Sports? geh?ren, ?ffentlich aufgef?hrt und gesellschaftlich inszeniert. Diesen Inszenierungen ist jedoch auch ein exkludierendes Potential zu attestieren; durch sie wird der Sport besonders anf?llig daf?r, beispielsweise Menschen mit Behinderungen zu exkludieren, wenn sie sich dem sportlichen Leistungs- und Gesundheitsdiktat nicht unterwerfen (Giese, 2016; Ruin, 2014).
In diesem Sinne erm?glicht die Besch?ftigung mit der Differenzlinie Behinderung vor dem Hintergrund der aktuellen Inklusionsprogrammatik den kritischen Blick daf?r, auch nach Inklusionshemmnissen im Sport, der Sportwissenschaft sowie der Sportp?dagogik zu suchen (Giese & Ruin, 2016). Dabei soll jedoch nicht ignoriert werden, dass Behinderung gewiss nur eine Heterogenit?tskonstruktion darstellt und Inklusion ebenso selbstverst?ndlich nicht als ein exklusives Thema der Behindertenp?dagogik zu lesen ist. In konstruktiver Diktion gilt es zudem, neben Inklusionshemmnissen auch M?glichkeiten und Potenziale der gleichberechtigten Teilhabe Aller am vielf?ltigen Kulturph?nomen Sport und damit einem wichtigen gesellschaftlichen Teilbereich in den Blick zu nehmen.
Entsprechend gehen die Beitr?ge des Themenhefts Sport und Inklusion in einem allgemeinen Teil zun?chst grundlegenden Facetten des Kulturph?nomens Bewegung, Spiel und Sport nach: Ausgehend von grundsatztheoretischen Fragestellungen vor dem Hintergrund sportsemiotischer ?berlegungen (Giese) und der Diskussion der Relevanz von Mehrperspektivit?t als gewinnbringendes didaktisches Prinzip in inklusiven Settings (Ruin & Meier) geht es um die Frage nach einem inklusions-kompatiblen Leistungsverst?ndnis im Sport (Meier, Haut & Ruin). Im Kontext des schulischen Bereichs pl?dieren die Beitr?ge f?r einen terminologischen Anschluss an die international gef?hrten Debatten um Adapted Physical Education (Giese, Kiuppis & Baumert), befassen sich mit Fragen zum Wandel der sonderp?dagogischen Professionalit?t im Fach Sport (Brand, Rischke & Zimlich) und diskutieren die ?bertragbarkeit internationaler sportdidaktischer Modelle auf den Inklusionsdiskurs in der deutschsprachigen Sportp?dagogik (Tiemann). Im au?erschulischen Bereich thematisieren die Beitr?ge den Behindertenleistungssport, den informellen Sport sowie den Vereinssport. Werden in diesem Sinne zun?chst die Folgen der UN-BRK f?r den sog. Behindertenleistungssport beleuchtet (Radtke), wird daran anschlie?end das inklusive Potential des informellen Sports in den Blick genommen, indem diskutiert wird, welche Relevanz die Sprachbeeintr?chtigung Stottern f?r das au?erschulische Sporttreiben von betroffenen Menschen hat (Bindel & Erdmann). Die Thematisierung des au?erschulischen Bereichs schlie?t mit ?berlegungen, wie erfolgreiche Inklusionsstrategien im Vereinssport aussehen k?nnen (Seitz, Meier & Adolph-B?rs) und mit einer nutzenfokussierten Evaluationsstudie am Beispiel einer inklusiven Handballinitiative (Greve). Abschlie?end liefert ein Beitrag aus der sog. Betroffenenperspektive (Sauerbier) gewinnbringende Einblicke in die Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur und sensibilisiert in diesem Sinne ? aus einer im Sport bisher komplett ignorierten Perspektive ? f?r systemimmanente Inklusionshemmnisse, die es zuk?nftig zu ?berwinden gilt.Martin Giese & Sebastian Ruin
LiteraturAlkemeyer, T. & Schmidt, R. (2003). Habitus und Selbst. Zur Irritation der k?rperlichen Hexis in der popul?ren Kultur. In T. Alkemeyer, B. Boschert, R. Schmidt & G. Gebauer (Hrsg.), Aufs Spiel gesetzte K?rper. Auff?hrungen des Sozialen in Sport und popul?rer Kultur (S. 77-102). Konstanz: UVK.
Andreasson, J., and T. Johansson. (2014). ?The Fitness Revolution. Historical Transformations in the Global Gym and Fitness Culture.? Sport Science Review XXIII 3?4, 91?112.
Deutscher Olympischer Sportbund & Deutsche Sportjugend (2013). Inklusion leben. Gemeinsam und gleichberechtigt Sport treiben. Positionspapier des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) und der Deutschen Sportjugend (dsj) zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen. DOSB: Frankfurt a.M.
Giese, M. (2016). Inklusive Sportp?dagogik. Kritische ?berlegungen zu einer anthropologischen Fundierung, Sportwissenschaft, DOI: http://dx.doi.org/10.1007/s12662-015-0382-z
Giese, M., & Ruin, S. (2016). Forgotten bodies ? an examination of physical education from the perspective of ableism. Sport in Society. DOI: http://dx.doi.org/10.1080/17430437.2016.1225857
Herz, B. (2014). P?dagogik bei Verhaltensst?rungen: An den Rand gedr?ngt? Zeitschrift f?r Heilp?dagogik, 65 (1), 4-14.
Horky, T. & Nieland, J.-U. (Hrsg.). (2013). International Sports Press Survey 2011 - quantity and quality of sports reporting. Norderstedt: Books on Demand.
Ruin, S. (2014). Fitter, ges?nder, arbeitsf?higer ? Die Verengung des K?rperbildes in Sportlehrpl?nen im Zuge der Kompetenzorientierung. Zeitschrift f?r Sportp?dagogische Forschung, 2 (2), 77-92. -
2-2016
Editorial zum Heftthema Schulische Inklusion im deutschsprachigen Raum ISehr geehrte Leserinnen und Leser,
nachdem wir uns in der vorherigen Ausgabe 1/2016 von Inklusion-Online schwerpunktm??ig mit inklusionsorientierten Entwicklungen in internationalen Kontexten auseinandergesetzt haben, beginnen wir mit dieser Ausgabe eine kleine zweiteilige Reihe, die sich dem Stand der Diskussion und Entwicklung im bundesdeutschen und im deutschsprachigen Raum befasst. Den Anfang machen in dieser Ausgabe 2/2016 kritische Sachstandsberichte aus Baden-W?rttemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern, Sachen, Sachsen-Anhalt und Th?ringen. Die ?brigen Bundesl?nder werden in der kommenden Ausgabe einer eingehenden Betrachtung unterzogen. Dar?ber hinaus finden Sie in dieser Ausgabe Beitr?ge zur Situation in ?sterreich und S?dtirol. Wie immer wird der Schwerpunkt durch die Rubrik frei eingereichter Beitr?ge vervollst?ndigt.
Den Anfang macht Peter Hudelmaier-M?tzke mit einer kritischen Betrachtung der Entwicklungen, die das neue Schulgesetz zum Schuljahr 2015/16 sowie damit zusammenh?ngend Reformen in der Lehrer*innenausbildung in Baden-W?rttemberg ausgel?st haben. Die politischen Entscheidungen schlossen dabei an Erfahrungen in ausgew?hlten so genannten Schwerpunktregionen an. Neben einer differenzierten Beschreibung der bildungspolitisch veranlassten Ver?nderungen bietet der Beitrag eine erste erfahrungsbasierte Einsch?tzung der get?tigten Reformen, gemessen an einem theoretisch reflektierten p?dagogischen Inklusionsverst?ndnis. Gew?rdigt werden etwa der Wegfall der Grundschulempfehlungen, die Einf?hrung der Gemeinschaftsschule, der Wegfall der Sonderschulpflicht und Ans?tze zu einer zieldifferenzierten F?rderung als Aufgabe aller Schulen. Dennoch ist zu konstatieren, dass in Baden-W?rttemberg alle vorhandenen Schularten nahezu unver?ndert beibehalten werden und so die Reformen bislang auf halbem Wege stecken bleiben.
Eine ?hnliche Situation ist f?r Bayern zu konstatieren. Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck verweisen darauf, dass s?mtliche bildungspolitische Strategien in Bayern erkl?rterma?en darauf abzielen, den Anspruch einer inklusiven Beschulung durch den Ausbau der Vielfalt schulischer Angebote quasi im bestehenden vielgliedrigen System aufzuheben. Bei diesem politstrategischen Kunstgriff werden zwar durchaus vereinzelte Integrationserfolge erzielt, ein Systemwandel aber wird gleichzeitig mit Verweis auf behauptete begrenzte ?ffentliche Akzeptanz und nachweisbare statistische Erfolge als letztlich nicht erforderlich erachtet. So l?sst sich in Bayern der Effekt feststellen, dass mehr Integration durchaus vereinbar ist mit gleichzeitig zunehmenden Segregationstendenzen. Die Autor*innen nehmen eine kritische Bewertung vor, welche die in Bayern zu beobachtenden Entwicklungen nach Ma?gabe eines menschenrechtlichen Verst?ndnisses der UN-BRK hinsichtlich zu garantierender Diskriminierungsfreiheit und uneingeschr?nktem Teilhaberecht als nicht zielf?hrend einsch?tzt.
Katja Koch und Tanja Jungmann setzen sich mit dem Stand der Diskussion in Mecklenburg-Vorpommern auseinander. Der Reformprozess der vergangenen vier Jahre in Mecklenburg-Vorpommern umfasst die fr?hkindliche Bildung, die Grundschule, weiterf?hrende Schulen, berufliche Schulen und Hochschulen. Ebenso thematisiert der Beitrag die Frage nach inklusionsorientierten Fortbildungsma?nahmen bei Lehrkr?ften sowie die wissenschaftliche Begleitung der eingeleiteten Ver?nderungen. Einer abschlie?enden kritischen Betrachtung wird das Strategiepapier der Landesregierung unterzogen, das die individuelle F?rderung aller Kinder ins Zentrum der ?berlegungen stellt. Gleichwohl weisen die Autor*innen auf zahlreiche Kompromisse hin, die realpolitisch eingegangen wurden, etwa im F?rderbereich Lernen oder bei Kindern mit Verhaltensauff?lligkeiten. Insgesamt ist bildungspolitisch eine unmissverst?ndliche strategische Ausrichtung im Sinne der vollumf?nglichen Anwendung der UN-BRK in Mecklenburg-Vorpommern noch nicht zu erkennen.
Eine sehr skeptische Einsch?tzung liegt f?r Sachsen vor. Christian Eichfeld und Saskia Schuppener weisen in ihrem Beitrag einleitend darauf hin, dass die Monitoring-Stelle des Deutschen Instituts f?r Menschenrechte das Bundesland Sachsen bereits 2014 aufgefordert hatte, seine Verweigerungshaltung zu schulischer Inklusion aufzugeben. Stattdessen verfolgt das Bundesland eine Politik der Kontinuit?t, die inklusionsorientierte Innovationen auf ein unumg?ngliches Mindestma? reduziert sehen m?chte. Inzwischen machen die Autor*innen eine Diskrepanz zwischen bildungspolitischen Strategien und der Praxis aus, die mancherorts durch ein inklusionsorientiertes Engagement getrieben, mutig voranschreitet. Res?mierend ist festzuhalten, dass auf diese Weise f?r Sachsen bislang bestenfalls von punktuellen Integrationserfolgen gesprochen werden kann, nicht aber von einer klaren politischen Zielstrebigkeit im Sinne einer konsequenten Anwendung der UN-BRK. ?Sachsen befindet sich noch weitgehend auf der Ebene der Einzelintegration, d.h. inklusive Entwicklungen mit systematischer Pr?vention und hinreichender sonderp?dagogischer F?rderung als subsidi?rer Bestandteil aller Schulen sind nach wie vor nicht zu erkennen?.
Noch mitten im Reformprozess sieht David Jahr auch den Stand der schulischen Inklusion in Sachsen-Anhalt. Der Beitrag greift den Stand gemeinsamer Unterrichtspraxis am Beispiel der Heterogenit?tsdimension Behinderung auf. Auf Basis der vorhandenen Datenlage werden ausgew?hlte Exklusionsbeobachtungen gemacht, die als Effekte eines fortbestehenden segregierenden Schulsystems nach wie vor zum schulischen Alltag in Sachsen-Anhalt geh?ren. Bislang sind drei Phasen schulpolitischer Reformen seit 2001 festzustellen, die 2013 in eine Schulgesetz?nderung m?ndeten, in der der allgemeine Bildungs- und Erziehungsauftrag um inklusive Bildungsangebote erweitert wurde. Dennoch ist das bislang Erreichte, gerade angesichts einer hinsichtlich Segregationseffekten besonders ung?nstigen Ausgangssituation, als noch wenig fortgeschritten zu bewerten. Auch David Jahr macht auf die besonderen politischen Rahmenbedingungen und realpolitischen Sachzw?nge aufmerksam, vor deren Hintergrund die bildungspolitischen Entscheidungen zu interpretieren sind.
Der L?nderbericht von Rainer Benkmann wirft einen Blick auf die Situation in Th?ringen. Hier wird festgehalten, dass Th?ringen durchaus bereits vor Inkrafttreten der UN-BRK Schritte in Richtung mehr Integration im Schulwesen gegangen ist. Inwieweit sich dieser ?Vorsprung? als g?nstig f?r eine schnellere und konsequentere Entwicklung hin zu einem inklusionsorientierten Schulsystem erwies, wird in dem Beitrag ?berpr?ft. Auch f?r Th?ringen gilt es, die ver?nderten politischen Kr?fteverh?ltnisse zu ber?cksichtigen, will man den Stand der Diskussion und die Qualit?t der im Sinne der UN-BRK erfolgten bildungspolitischen Entscheidungen w?rdigen. Der Beitrag schlie?t mit Anmerkungen zur ?ffentlichen Kritik und dem Stand der ?ffentlichen Diskussion um Inklusion in Th?ringen. Deutlich wird hier, dass das unterstellte oder tats?chliche (begrenzte) Ma? ?ffentlicher Unterst?tzung f?r ein inklusives Schulsystem ber?cksichtigt werden muss, um bildungspolitischen Ma?nahmen die erforderliche Akzeptanz und Durchsetzungskraft zu verleihen.
Einen Vergleichsma?stab zum Stand der Diskussion und der Entwicklung in den Bundesl?ndern der Bundesrepublik Deutschland liefert der Beitrag zur aktuellen Lage in S?dtirol. Edith Brugger-Paggi rekonstruiert zun?chst die Genese der schulischen Integrationspolitik in Italien, seit im Jahre 1977 die Integration aller Kinder mit einer Beeintr?chtigung in die Regelklassen und ?schulen fl?chendeckend gesetzlich verankert worden war. Trotz einer kontinuierlichen Weiterentwicklung in Richtung schulischer Inklusion lassen sich auch in S?dtirol Widerspr?che feststellen, die bis zum heutigen Tag sp?rbar sind. Diese beziehen sich weniger auf die gesetzlichen Rahmenbedingungen als solche, als vielmehr auf die gelebte Praxis und deren Wahrnehmung und Bewertung seitens der ?ffentlichkeit. ?Von Inklusion im eigentlichen Sinn k?nnen wir erst dann sprechen, wenn die Vielfalt nicht als Belastung, sondern als Bereicherung erlebt wird, wenn sie von allen als die Normalit?t empfunden wird, wenn die daf?r notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen als systemimmanente Grundausstattung gesehen werden und nicht als Mehrausgabe, an der man immer wieder feilen und Abstriche machen kann. Und dies macht sich insbesondere in Krisenzeiten bemerkbar.?.
Anders in ?sterreich. Ewald Feyerer pr?ft das bildungspolitisch artikulierte Bekenntnis, das ?Inklusion der Weg der Zukunft? sei. Allerdings muss er ?sterreich eine Politik der kleinen Schritte attestieren, die bislang nur punktuelle und begrenzte Fortschritte erahnen lassen, in Abh?ngigkeit von bestehenden gesetzlichen Rahmenbedingungen und l?nderspezifisch in unterschiedlichem Ma?e zur Verf?gung stehenden Ressourcen. ?sterreich verfolgt die Strategie konzeptionell ausgewiesener ?inklusiver Modellregionen? auf Basis einer reformierten Lehrer*innenausbildung. Vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwicklungen und der bislang erfolgten realpolitischen Entscheidungen ist dabei kaum davon auszugehen, dass im Jahre 2020, das der geltende nationale Aktionsplan als Zielmarkierung nennt, in ?sterreich eine fl?chendeckende Verankerung von Inklusion im Schulsystem erreicht ist.
Caroline Schmitt legt einen frei eingereichten Beitrag vor, der professionstheoretische ?berlegungen zu einem kritisch-reflexiven Inklusionsverst?ndnis formuliert. Dabei bringt die Autorin Inklusion, Interkulturalit?t und Diversity in einen diskursiven Zusammenhang, mit dem Ziel, konzeptionellen Unsch?rfen des Inklusionsbegriffs entgegenzuwirken. Die Autorin nimmt dabei die individuelle Lebenslage der Adressat*innen auf der Basis einer intersektionalen Sichtweise von Heterogenit?t in den Blick. Ein inklusionsorientierter professioneller Habitus bedarf eines Verst?ndnisses von Inklusion, das seine Adressat*innen nicht auf eine Heterogenit?tsdimension verk?rzt, sondern sich kritisch-reflexiv mit der eigenen Rolle bei wahrnehmungsbedingten Zuschreibungsprozessen auseinandersetzt.Als weitere Themenschwerpunkte der folgenden Ausgaben sind geplant:
Schulische Inklusion im deutschsprachigen Raum II
Inklusion und Sport
Inklusion und Theorieentwicklung (Arbeitstitel)Wir w?nschen Ihnen eine anregende Lekt?re.
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
f?r die Redaktion von Inklusion-Online