4-2016
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
zunehmend erreichen uns frei eingereichte interessante Einzelbeitr?ge, die bisweilen den Rahmen einer Schwerpunktausgabe sprengen w?rden. Mit der letzten Ausgabe in 2016 von Inklusion-Online haben wir uns daher daf?r entschieden, diesmal keinen spezifischen thematischen Schwerpunkt zu verfolgen. Die vorgelegten Beitr?ge eint dennoch eine gewisse Sto?richtung: Gemeinsam ist ihnen ein kritisch-konstruktiver Blick auf den Stand und die Verfassung der Inklusionsforschung, unter anderem in methodischer Hinsicht.
J?rgen Budde, Nina Blasse und Svenja Johannsen unterziehen die beobachtbaren Perspektiven praxistheoretischer Inklusionsforschung, bezogen auf den Schulunterricht, einer methodischen und theoretisch reflektierten Kritik. Ausgehend von Diagnosen eines defizit?ren Forschungsstands, verfolgen sie ihre Fragestellung mit Hilfe einer vergleichenden Meta-Analyse von f?nf unterschiedlichen ethnographischen Projekten, die den Schulunterricht und dessen Einbettung in inklusionsorientierte schulische Systembedingungen praxistheoretisch reflektiert. Sie beobachten entlang der Variablen Dis/Ability, Leistung und unterrichtlichen Verhaltens situativ je unterschiedliche Weisen der (Neu)Sortierung und (Wieder)Besonderung in der p?dagogischen Praxis inklusionsorientierten Schulunterrichts. In diesem neu austarierten und doch gleichzeitig erneuerten Verh?ltnis zwischen Inklusivit?t und Exklusivit?t vermissen die Autor*innen intersektionale, machtkritische Impulse. Es wird f?r eine Praxeographie pl?diert, die neben beobachtbaren Aktivit?ten beteiligter Akteur*innen auch auf empirische Daten zur Rekonstruktion von diskursiven und materiellen Dimensionen zur?ckgreift.
Regine Schelle untersucht die Schl?sselfunktion und Position von Kita-Leitungen hinsichtlich erforderlicher beruflicher Kompetenzen und konkreter Arbeitsbedingungen f?r inklusive Prozesse. In Professionalisierungsdiskussionen, bezogen auf das Handlungsfeld der Fr?hp?dagogik, l?sst sich ein Blick auf die Bedeutung der Leitungsebene eher beobachten. Gleichwohl vollziehen sich Change Management und Prozesse der Organisationsentwicklung nie losgel?st von der Leitungsebene. Welche Voraussetzungen finden Kita-Leitungen eigentlich vor, um ihrer Rolle und den damit verbundenen Erwartungen im Zuge inklusiver Prozesse gerecht werden zu k?nnen? Regine Schelle vergleicht die Erwartungen, die an Kita-Leitungen im Zuge der Inklusionsforderungen gestellt werden, mit den vorhandenen beruflichen Kompetenzen und konkreten Arbeitsbedingungen und zieht daraus ihre Schl?sse f?r die weitere Professionalisierung des fr?hp?dagogischen Leitungshandelns.
Lisa D.H. Schmidt befasst sich mit dem Foschungsstand zu schulischer Assistenz in Deutschland und bezieht dabei Aspekte internationaler Forschungsbefunde mit in ihre Betrachtung ein. Festzustellen ist zun?chst die immense Variationsbreite der rechtlichen Regelungen schulischer Assistenz in Deutschland, die zu erheblich unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedingungen schulischer Teilhabe f?hrt. Zusammengefasst werden die zwischen 2009 und 2016 in Deutschland erhobenen Befunde zur Thematik, unter Ber?cksichtigung von 12 quantitativen und 4 weiteren Studien mit unterschiedlicher methodischer Vorgehensweise. Sie repr?sentieren den empirischen Forschungsstand zur Schulbegleitung, wie er sich durch eine systematische Recherche gegenw?rtig zeigt. Dabei geraten die Rahmenbedingungen f?r die T?tigkeit schulischer Assistenz, ihre definierten Aufgabenbereiche sowie die Wahrnehmung der Ma?nahme durch die beteiligten Akteur*innen in der Praxis in den Blick. Es zeigt sich eine komplexe Aufgabenzuschreibung, ohne verbindliche Regelungen in Bezug auf die Kooperation der Akteur*innen, trotz ihrer offensichtlichen Bedeutung f?r das Gelingen von Inklusion in der Praxis. Abschlie?end formuliert die Autorin einen weiteren Forschungsbedarf unter Bezugnahme auf die Erkenntnisse, die die internationale Forschungslage bereit stellt.
Tobias Feldhoff zielt in seinem Beitrag auf theoretische und empirische Herausforderungen an eine Schulentwicklungsforschung in Deutschland, angesichts der unterschiedlichen zu beobachtenden Entwicklungen in den einzelnen Bundesl?ndern. Neben der Ber?cksichtigung der f?deralen Rahmenbedingungen verweist er auf den Einbezug aller Ebenen des Schulsystems, als da sind: regionale/kommunale Bedingungen, die einzelne schulische Institution sowie die Ebene der konkreten Unterrichtspraxis. F?r Deutschland stellt der Autor Forschungsdefizite und Forschungsbedarfe ?ber die Folgen der Ver?nderungsprozesse fest, die inklusive Entwicklungsbestrebungen bislang gezeitigt haben. Der Beitrag strebt die Formulierung eines Forschungsprogramms zur Transformation inklusiver Schulsystementwicklung auf der Basis des aktuellen Forschungsstandes an. Der Fokus liegt hierbei auf zentralen Forschungsfragen, die sich aufdr?ngen, sowie auf den theoretischen und methodischen Anforderungen, die sich f?r ein entsprechendes Forschungsdesign ergeben.
Abschlie?end hinterfragt Joachim Schroeder das Bild, das hierzulande von Kanada als oft zitiertes Vorbild f?r Inklusion gezeichnet wird. Er kritisiert dabei die bisweilen wenig reflektierte empirische Basis, die der hiesigen Rezeption der kanadischen Verh?ltnisse zugrunde gelegt ist. Risiken einer verzerrenden Wahrnehmung und Interpretation bestehen etwa in der regionalen Begrenztheit, die die erziehungswissenschaftliche Berichterstattung in Deutschland ?ber Kanada aufweist. Bildungsteilhabebedingungen und Bildungserfolge werden ?berwiegend getrennt voneinander untersucht. Bestehende politische Widerspr?che und empirische Ungereimtheiten werden in der entsprechenden Berichterstattung kaum betrachtet. Zudem f?hrt eine dichotome Vergleichsperspektive oft zu einer wenig differenzierten pauschalisierenden Gegen?berstellung deutscher und kanadischer Systembedingungen. Auf der Basis eigener Erfahrungen vor Ort unterzieht Joachim Schroeder in seinem Beitrag die kanadischen Verh?ltnisse einer differenzierten Betrachtung, die es erlaubt, den skizzierten Rezeptionsgewohnheiten eine sowohl kritische als auch weiterf?hrende Erkenntnisdimension hinzuzuf?gen. An Beispielen zu den Problemen der Beschulung von First Nations, sozial sehr benachteiligten Kindern und Jugendlichen, Sch?ler*innen mit einer Behinderung sowie von Rassismus betroffenen jungen Afrocanadians werden bildungspolitische und p?dagogische Paradoxien diskutiert aber auch gelungene Beispiele pr?sentiert.
Als weitere Themenschwerpunkte der folgenden Ausgaben sind geplant:
Theoretische Perspektiven im Inklusionsdiskurs
Schulische Inklusion im deutschsprachigen Raum II
Citizenship und Inklusion
Wir w?nschen Ihnen eine anregende Lekt?re.
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
f?r die Redaktion von Inklusion-Online