4-2018
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
wir freuen uns rechtzeitig zum Ende des Jahres 2018 die vierte Ausgabe von Inklusion-Online vorlegen zu k?nnen. Inklusive Entwicklungen sind in vielerlei Hinsicht inzwischen in schweres Fahrwasser geraten. Politisch gesehen kamen die Bem?hungen im Bildungsbereich weitgehend zum Stillstand und werden inzwischen von anderen Zielsetzungen ?berlagert und auch in gro?en Teilen des Fachdiskurses bekommt man den Eindruck, dass sich der Wind gedreht haben k?nnte, gibt es doch immer mehr nicht eigentlich kritische Debatten als vielmehr ideologisch gef?rbte Einlassungen, die inklusive Anspr?che pauschal als gescheitert, widerlegt oder auch ?berzogen halten. Dem sollte eine qualifizierte Inklusionsforschung etwas entgegensetzen und sich m?glichst nicht beirren lassen von Debatten, die zumeist auf einer Interpretation von Inklusion basieren, die die Herausforderungen des bestehenden rechtlichen Rahmens, der u.a. durch die UN-BRK repr?sentiert wird, weitgehend ignorieren oder in Frage stellen.
Matthias Windisch und Philine Z?lls-Kaser betrachten in ihrem Beitrag den Effekt sogenannter inklusiver Sportangebote von Sportvereinen f?r die Teilhabe im Gemeinwesen. Bezugspunkt sind die Evaluationsergebnisse eines Modellprojekts, die sich aus der Befragung der Nutzer*innen ergaben. W?hrend keine Unterschiede zwischen Teilnehmenden mit und ohne Behinderung hinsichtlich der Teilnahemotivation festgestellt werden konnten, zeigten sich Partizipationsm?glichkeiten und Einfl?sse auf die Beziehung zwischen Nutzer*Innen und ?bungsleitung sowie Auswirkungen auf die wechselseitige Wahrnehmung. Trotz der modellhaften Angebotsstruktur wird somit ein positives Res?mee gezogen, was die Resonanz in die Region anbelangt. Die Autoren sprechen sich f?r eine Professionalisierung der inklusionsorientierten Angebote aus, um diese langfristig, nachhaltig und kontinuierlich etablieren zu k?nnen.
Martina Hehn-Oldiges, Ulrike Sell und Patrik Widmer-Wolf geht es um Folgerungen, f?r die Aus- und Weiterbildung der Lehrer*innenbildung, die sich aus einer Inklusionsorientierung ergeben. Die Autor*innen nehmen dabei Bezug auf den Index f?r Inklusion, das Profil f?r inklusionsp?dagogisch t?tige Lerhkr?fte der European Agency for Development in Special Needs Education sowie die Reckahner Reflexionen zur Ethik in p?dagogischen Beziehungen zwischen Lehrpersonen und Sch?ler*innen. Inklusionssensibilit?t p?dagogischer Beziehungen bew?hrt sich dabei auf den Ebenen der Partizipation, des Feedbacks seitens der Lehrenden, der Normierungsprozesse, der Etikettierungs- und Zuschreibungen sowie des subjektiven Umgangs mit der eigenen emotionalen Befindlichkeit. Interaktionen von Lehrpersonen in ihrer eigenen Aus- und Weiterbildung k?nnen dabei f?r die eigene zuk?nftige Lehrpraxis genutzt werden, da sie Erfahrungsr?ume f?r die Reflexion guter oder problematischer Lehrpraxen der Dozierenden, Aus-oder Weiterbilder*innen bieten.
Kathrin Lemmer interessiert sich f?r Vorstellungen und Erfahrungen bez?glich p?dagogischer professioneller Kooperation im Kontext von inklusionsorientierter Unterrichtspraxis. Aus der Auswertung von Gruppendiskussionen mit Hilfe der Grounded Theory werden vier Typen von Kooperationsvorstellungen angehender Lehrkr?fte rekonstruiert. Inklusion wird dabei kontrovers diskutiert, insofern Lehrkr?fte theoretische Anforderungen und schulpraktische Umsetzungen sowie eigene Erfahrungen nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner bringen k?nnen. Didaktisch und methodisch wird den ambivalenten Einstellungen und Erfahrungen auf Unterrichtsebene mit Differenzierung begegnet, wobei die ?Figur der Sonderp?dagog*innen als Differenzierungskraft wahrgenommen wird, ?welche durch eine ambivalente Charakterisierung als Vehikel zu Inklusion und durch gleichzeitige professionsbedingte Exklusionsmechanismen benannt wird?. Mangelnde Vorstellungen seitens der Regelschullehramtsstudierenden von der sonderp?dagogischen Fachlichkeit in inklusionsorientierten Kontexten f?hrt zu einer Vorstellung von Kooperation, die der Sonderp?dagogik die Zust?ndigkeit f?r Sch?ler*innen mit F?rderbedarf zuweist. Teamteaching auf Basis symmetrischer Beziehungen sind bislang kaum im Bewusstsein der Studierenden. Die Autor*innen sprechen sich f?r Forschungsaktivit?ten aus, die den aufgeworfenen Fragen weiter lehramtsspezifisch nachgehen, zudem besteht ein Kenntnisbedarf ?ber die Vorstellungen von Sonderp?dagog*innen. Durch eine Erweiterung der Perspektive auf die zweite Ausbildungsphase k?nnten Implementationen f?r die Lehrer*innenbildung umfassender konzipiert werden und der Fokus dar?ber hinaus auch auf die Fort- und Weiterbildung von Lehrkr?ften erweitert werden.
Anna Maria Loffredo und Robert Schneider-Reisinger bleiben gewisserma?en beim Thema und legen einen provokanten Essay vor, der die Chancen und Risiken f?r den Lehrberuf angesichts der beobachtbaren Ver?nderungen in Richtung Inklusion mit sich bringt. Die Situation der ?sterreichischen wie der deutschen Lehrerbildung im Blick, beziehen die Autor*innen ihre disziplinspezifischen allgemeinp?dagogischen und kunstdidaktischen Sichtweisen dialogisch aufeinander. Es geht auch um die Frage nach der Eignung f?r einen Lehrberuf angesichts der Herausforderung, im Sinne der UN-BRK eine barrierefreie Lehre f?r alle zu gestalten. Bestehende Anforderungen m?ssen vor dem Hintergrund inklusiver Schulstrukturen reflektiert und ggf. ver?ndert werden (Stichwort: Teamteaching).
Robert Schneider f?hrt in seinen Reflexionen zur Rolle und Bedeutung der Kategorie Fremdheit in inklusiver P?dagogik die bildungstheoretischen und ?philosophischen ?berlegungen fort, die zu einer ?berwindung dichotomen Denkens und Wahrnehmens in p?dagogischen Handlungskontexten f?hren sollen. Unter Bezugnahme auf Karl Marx und Georg Simmel wird die Denkfigur ?Fremdheit? in ihrer Bedeutung f?r (Identit?ts)Bildung thematisiert. Fremdheit verliert im Zuge der Diskussion ihren unterstellten Charakter als Eigenschaftsbeschreibung und erweist sich vielmehr als ?Verortung eines Verh?ltnisses?.
Kerstin Merz-Atalik f?hrt in ihrem abschlie?enden Beitrag die unregelm??ige Reihe der L?nderbetrachtungen in Inklusion-Online fort. Auf Basis aktueller Daten zur schulischen Inklusion in Baden-W?rttemberg wird eine kritische Analyse der Effekte politischer Ma?nahmen und Strategien (insbesondere reformierte Schulgesetzgebung und Einf?hrung eines Elternwahlrechts) vorgelegt, die im Kontext der Anwendung der UN-BRK eingeschlagen wurden. Dabei steht Baden-W?rttemberg beispielhaft f?r die Tatsache, dass sich im Berichtszeitraum F?rderquoten ebenso wie Segregationsquoten erh?hen. Das bedeutet im Ergebnis, dass sich Integration und Segregation nicht als Nullsummenspiel erweisen, sondern sich wechselseitig sogar bedingen k?nnen, was die praktizierte Governance ?inklusiv? genannter Schulentwicklung vor dem Hintergrund der Aufgabenstellung, die sich aus der UN-BRK ergibt, in Frage stellt.
Wir w?nschen Ihnen eine anregende Lekt?re und ein entschleunigtes Jahresende.
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
f?r die Redaktion von Inklusion-Online