4-2017 Raum und Inklusion
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
wir freuen uns, Ihnen die vierte Ausgabe von Inklusion-Online in 2017 an die Hand geben zu k?nnen.
Inwiefern ist Inklusion als theoretisches Konzept und/oder normative Handlungsorientierung aus raumtheoretischer und raumsoziologischer Sicht bedenkenswert? Und welche Auffassung von Raum und R?umlichkeit legt ein Inklusionsverst?ndnis nahe, das sich der Anwendung der UN-Konvention ?ber die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) verschreibt?
Das Schwerpunktthema der vorliegenden Ausgabe geht zur?ck auf die ?Freiburger Methodengespr?che? an der P?dagogischen Hochschule Freiburg, die sich im April 2017 mit ?Raum und R?umlichkeit im Kontext von Heterogenit?t und Inklusion? auseinandergesetzt haben. Andreas K?pfer und Georg Ri?ler, die auch beide in dieser Ausgabe mit eigenen Beitr?gen vertreten sind, widmeten den Freiburger Fachtag den Raumbegriffen, in denen sich Inklusions- und Exklusionsordnungen h?ufig ausdr?cken, und nach deren theoretischen wie methodischen Implikationen f?r inklusionsorientierte Erziehungswissenschaften. Dabei ist festzustellen, dass die Verflechtungen von Raum, Heterogenit?t und Inklusion in wissenschaftlicher Hinsicht bislang bestenfalls randst?ndige Beachtung gefunden haben. Die Reden vom ?Spatial Turn? und von ?Inklusion? haben jeweils f?r sich Konjunktur, ohne jedoch bisher differenziert und systematisch aufeinander bezogen worden zu sein. In Ankn?pfung an diese Fragen und den genannten Fachtag vereint die vorliegende Ausgabe Beitr?ge, die erste theoretische Kl?rungen, empirisch grundierte Interpretationen und diskutierbare Positionen vornehmen m?chten.
J?rgen Budde und Georg Ri?ler beobachten, dass schulische Transformationsprozesse im Zeichen inklusiver Bem?hungen mit einer nicht zuletzt r?umlichen Pluralisierung von Unterricht einhergehen. ?ber das althergebrachte Klassenzimmer hinaus findet inklusionsorientierter Unterricht h?ufig an unterschiedlichen Orten in unterschiedlichen Formen statt. Die ver?nderte Bedeutung des Klassenraums f?r eine inklusionsorientierte Unterrichtsforschung erfordert die Unterscheidung von Raum und R?umlichkeit. Die Tendenzen der r?umlichen Differenzierung und Pluralisierung von Unterricht in ?gr??ere? Konstellationen m?nden hierbei keineswegs notwendigerweise in einem ?inklusiven gemeinsamen Unterricht? f?r alle. Vielmehr setzen sie neue Differenzierungspraktiken in Gang. Der Beitrag stellt sich die Frage nach der unterrichtstheoretischen Bedeutung im Zusammenhang mit Inklusion/Exklusion.
Andreas K?pfer sucht nach theoretischen Ankn?pfungspunkten und Anschlussf?higkeiten der Diskurse um Inklusion, Behinderung und Raum und illustriert seinen Ansatz an einem empirischen Beispiel. Raumproduktion und Raumaneignung vollziehen sich unter inklusionsorientierten Vorzeichen etwa ?ber professionelle Kooperationsprozesse. Aktuelle Schulentwicklungsprozesse mit einem inklusionsorientierten Anspruch verlangen dabei nach einer relationalen Auffassung von Behinderung. Auf Basis dieser Annahme werden mittels raumanalytischer Bez?ge zu Raumproduktion und Raumaneignung beispielhaft kooperative Praktiken von Sonderp?dagog*innen und Regelp?dagog*innen in inklusionsorientierten Schulen in Baden-W?rttemberg analysiert.
Hendrik Trescher und Teresa Hauck setzen ebenfalls an einem relationalen Raumverst?ndnis an. Raum wird demnach in Aneignungspraxen durch Subjekte hervorgebracht, w?hrend diese ihrerseits in einem Verh?ltnis wechselseitiger Gleichzeitigkeit als ?Aneignungssubjekte? subjektiviert werden. Menschen, die als ?behindert? bezeichnet werden, haben h?ufig nur eingeschr?nkte M?glichkeiten zur Raumaneignung bzw. k?nnen sich Raum mitunter nur als ?Territorium der Anderen? aneignen. Eine solche Aneignung erfolgt dann zumeist buchst?blich ?ber Sonderwege. Im Beitrag wird sowohl theoretisch als auch anhand der Betrachtung von Fallbeispielen dargelegt, inwiefern eingeschr?nkte Aneignungsm?glichkeiten von Raum als Behinderungspraxen wirksam werden. Schlussendlich wird diskutiert, wie Raum und Inklusion relational zusammenh?ngen bzw. was f?r ein Verst?ndnis von Inklusion notwendig ist, um Inklusion in Theorie und Praxis relational zu denken. Raumsoziologische Theorien k?nnen einen Beitrag leisten zur (Be)Deutung von Behinderung und deren Verschiebung. Raum ist dabei nicht vordergr?ndig auf die Dimension seiner materiellen Ausdehnung zu reduzieren, sondern erweist sich als sozial, historisch und hierarchisch dimensioniertes Terrain, auf dem Bedeutungen machtvoll ausgehandelt werden.
Anke Langner und Karin Mannewitz bestimmen mithilfe der Bezugstheorien von Pierre Bourdieu und Michel Foucault, Raum als Ergebnis von sozialen Aushandlungsprozessen, die von Machtverh?ltnissen durchzogen sind. Der Beitrag vertieft damit den Ansatz einer relationalen Interpretation von R?umlichkeit und widerspricht dem reduktionistischen Konzept des Raums als Container. Raum wird als soziales Konstrukt, welches durch Wissensordnungen und die Interaktionen von Menschen gepr?gt ist, entworfen. Vor diesem Hintergrund erscheint es den Autorinnen notwendig, bei der Herstellung von Raum st?rker die subjektive Perspektive auf den Raum und deren Verstrickung mit den jeweils herrschenden Machtverh?ltnissen zu fokussieren.
Die macht- und herrschaftskritische Perspektive setzt Tobias Buchner in seinem Beitrag auf Basis empirischer Materialien fort. Er entfaltet zun?chst einen heuristischen Rahmen, der sich aus macht- und f?higkeitskritischen sowie raumtheoretischen ?berlegungen zu Schule zusammensetzt. Diese Perspektive wird anschlie?end auf ein Forschungsprojekt an drei Schulen in Wien bezogen. Dabei wird anhand einer ethnographischen Collage nachgezeichnet, wie Sch?ler*innen die Subjektposition ?Integrationskind? konstruieren und auf welche p?dagogischen Praktiken sie referieren. Verr?umlichte Praktiken spielen hierbei ?ber ableistische Grenzziehungen eine bedeutsame Rolle. Die Raumordnung des Unterrichts wird mit der des Pausenhofs verglichen, um zu analysieren, inwiefern sich die erw?hnten Praktiken produktiv auf die Sozialit?t von Peers auswirken.
Tobias Buchner vertieft anschlie?end die empirische Ausrichtung in einem weiteren Beitrag, in dem er das Zusammenspiel von M?nnlichkeit und F?higkeit an einer Neuen Mittelschule in Wien untersucht. Dazu wird der Blick auf einen Sch?ler gerichtet, der durch spezifische Praktiken von M?nnlichkeit die marginalisierenden Effekte der inferioren Subjektposition ?Integrationskind? vermeiden und stattdessen sich einen Platz an der Spitze des sozialen Gef?ges seiner Klasse erarbeiten kann. Dabei werden die Verhandlungen von F?higkeit und M?nnlichkeit aus einer theoretischen Perspektive heraus betrachtet, die sich aus f?higkeitskritischen Konzepten aus den Disability Studies, dem Modell hegemonialer M?nnlichkeit sowie raumsoziologischen ?berlegungen zusammensetzt.
Martin Nugel bezieht sich bei seiner Betrachtung der dialektischen Verschr?nkung von Diskursen um Inklusion und Raum auf J?rgen Habermas. Das als konstitutiv f?r das Inklusionsparadigma postulierte Theorem der ?Einbeziehung des Anderen? wird als Herausforderung f?r die r?umliche Organisation und Strukturierung von Bildungslandschaften beschrieben. Der Beitrag m?chte den Blick f?r die ?utopischen ?bersch?sse? der Produktion und Aneignung inklusionsorientierter und heterogenit?tssensibler Bildungsr?ume sch?rfen.
Christian Timo Zenke arbeitet in seinem Beitrag die Aspekte der Flexibilit?t und Durchl?ssigkeit p?dagogischer R?ume als raumbezogene Rahmenbedingungen inklusiver Didaktik am Beispiel der Laborschule Bielefeld heraus. Diskutiert werden zun?chst ausgew?hlte Schulraummodelle wie ?Klassenraum plus?, ?Cluster? und ?Offene Lernlandschaft?. Im Anschluss daran wird am Beispiel der Laborschule Bielefeld die konkrete Nutzung eines explizit als Lernlandschaft konzipierten Schulgeb?udes untersucht. Inwieweit tragen die R?umlichkeiten sowohl zur Verwirklichung eines adaptiven und binnendifferenzierten Unterrichts bei als auch zur Umsetzung des betreffenden Unterrichts im Co-Teaching sowie zur Herstellung von Gemeinsamkeit s?mtlicher Sch?lerinnen und Sch?ler im allt?glichen Schulleben?
Silke Schreiber-Barsch r?ckt in ihrem Beitrag institutionalisierte Einrichtungen der Erwachsenenbildung unter den Aspekten von Planung und Organisation von Lehren und Lernen in den Mittelpunkt. Im Zentrum steht die Frage, wie die R?umlichkeit des Handelns von professionell T?tigen an institutionalisierten Lernorten auf das Ziel einer Gestaltung von inklusionsorientierten Settings wirkt. Die Ergebnisse einer explorativ-qualitativen Erhebung mit professionell T?tigen an Lernorten Erwachsener zeigen anschlie?end an eine relationale Raumtheorie die Varianz der erwachsenenp?dagogischen Umsetzung dieser Agenda auf das Territorium eines Lernortes auf.
Benjamin Wagener und Monika Wagner-Willi hinterfragen abschlie?end die Ans?tze zur Umsetzung von Bildungsreformen in Schule und Unterricht, die auf Inklusion zielen. Sie schlagen vor, die Programmatik von der Praxis der Inklusion zu unterscheiden und das soziale Handeln in seinem performativen Vollzug selbst zu rekonstruieren. Vor dem Hintergrund raumtheoretischer ?berlegungen kommt hierbei raum-bezogenen Praxen besondere Bedeutung zu. Der Beitrag geht dem Aspekt des Performativen im Rahmen der Methodologie einer praxeologischen Wissenssoziologie nach. Auf der Basis von kontrastierenden Unterrichtsvideografien zu Leistungslogiken in unterschiedlichen Schulformen wird dargelegt, wie mit der Zuschreibung von Leistungsdifferenzen eine differente Zuweisung und Nutzung von ?Territorien? im Goffmanschen Sinne einhergehen. Die eingespielten performativ-r?umlichen Praxen sind mit Prozessen der Marginalisierung und der Privilegierung von Sch?lerinnen und Sch?lern verbunden und lassen zudem Machtstrukturen erkennen, die sich der Aushandlung entziehen.
Eine anregende Lekt?re w?nschen Ihnen
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
f?r die Redaktion von Inklusion-Online
F?r 2018 sind bisher folgende Ausgaben geplant
(Arbeitstitel, ?nderungen vorbehalten):
1/2018 Auswahl frei eingereichter Beitr?ge
2/2018 Anti-Psychiatrie und Inklusion
3/2018 Inklusionsforschung im Spiegel akademischer Qualifizierungsarbeiten