4-2020
Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,
zum Abschluss dieses so ganz anders verlaufenden Jahres 2020 pr?sentieren wir Ihnen hiermit unsere 4. Ausgabe von Inklusion-Online ? ein Jahr, das u.a. auch die ressourcenbezogenen und aufmerksamkeits?konomischen Rahmenbedingungen f?r inklusionsorientierte Entwicklungen offensichtlich erschwert hat und umso deutlicher die Notwendigkeit zutage treten lie?, das bisher Erreichte zu verteidigen und den menschenrechtlichen Anspruch der UN-BRK auch und gerade im Bildungsbereich nicht bereits als eingel?st zu betrachten. Insofern sind es auf den ersten Blick nicht immer neue Fragen, die sich mit Blick auf ?Inklusion? stellen, aber viele der bekannten Fragen stellen sich m?glicherweise in neuer Weise, durch einen sozialen und gesellschaftlichen Wandel, der ?berkommene Priorit?ten ?berschreibt.
In dieser Ausgabe werden mit Blick auf Schule sowohl strukturell-institutionelle Bedingungen als auch Fragen der inklusionsorientierten professionellen Haltung sowie sp?rbare Tendenzen einer weiteren theoretischen Verengung des inklusiven Anspruchs kritisch in den Blick genommen. Ein besonderes schwerpunktm??iges Augenmerk liegt dabei auf den Bereichen der regulativen Rahmenbedingungen und deren Wirkung auf die Praxis. Es freut uns besonders, dass in dieser Ausgabe mit je einem Beitrag aus der Schweiz und aus ?sterreich der deutschsprachige Raum repr?sentiert ist und so Unterschiede wie m?gliche Parallelentwicklungen in den L?ndern nachverfolgt werden k?nnen.
Julia Gasterst?dt, Anna Kistner und Katja Adl-Amini fragen nach institutioneller Diskriminierung in und durch schulgesetzliche Regelungen in den 16 Bundesl?ndern und untersuchen in diesem Zusammenhang die Konsequenzen, die aus der Feststellungspraxis eines sonderp?dagogischen F?rderbedarfs resultieren. Auf Basis einer Dokumentenanalyse sowie mit Hilfe graphischer Darstellung werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Prozessverlauf der Feststellungsverfahren beschrieben. Die Argumentation kn?pft dabei an Debatten zur De-/Kategorisierung und inklusiven Diagnostik an. Kritisiert wird die Konstruktion des sonderp?dagogischen F?rderbedarfs als klassifizierende Zuweisungskategorie in den jeweiligen Schulgesetzen, ihre impliziten Zielsetzungen und differenzierten Inhalte sowie die unterschiedlichen Varianten der Feststellungsverfahren. Die gegebenen gesetzlichen Rahmenbedingungen fungieren in der Praxis jeweils als ?institutionalisierte M?glichkeitsstrukturen? in Bezug auf stigmatisierungsm?chtige Kategorisierungsoptionen und exkludierende Schullaufbahnentscheidungen.
Kris-Stephen Besa, Ernst Daniel R?hrig, Caroline Schmitt und Marc Tull befassen sich mit Einstellungen angehender Lehrkr?fte und Sozialp?dagog*innen zu Inklusion im Sinne des ?bereinkommens ?ber die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK). Der Beitrag setzt an der (Aus-)Bildung eines inklusiven professionellen Habitus in p?dagogischen und sozialen Studieng?ngen an, als grunds?tzlicher Voraussetzung f?r inklusionsorientierten Fortschritt. Ausgangs- und Ankn?pfungspunkt sind dabei die Einstellungen zu und Wissensbest?nde ?ber Inklusion von Studienanf?nger*innen in der Universit?ts- und Hochschulausbildung. Die empirische Basis des Beitrags bilden ausgew?hlte Befunde des quantitativ ausgerichteten Projekts ?Studierenden-Perspektiven auf Inklusion (SPiN)?, das 2019 an der Universit?t Trier durchgef?hrt wurde. Es wurden die Einstellungen zu Inklusion in der Schule von 460 Studienanf?nger*innen der Bachelorstudieng?nge ?Bildungswissenschaften? und ?Erziehungswissenschaft: Sozial- und Organisationsp?dagogik? erhoben. Dabei zeigte sich, dass Inklusion durchgehend als relevante Perspektive im Handlungsfeld der Schule erachtet wurde. Unterschiede gab es jedoch zwischen Lehramtsanw?rter*innen und Studierenden der Erziehungswissenschaften. Die Autor*innen sprechen sich f?r eine breitere empirische Basis sowie erg?nzende qualitative Studien aus, die geeignet w?ren, weitere Ansatzpunkte f?r die ?Vermittlung eines inklusiven professionellen Habitus in der Lehre? zu liefern.
Jonas Becker, Ann-Kathrin Arndt, Jessica M. L?ser, Michael Urban und Rolf Werning spezifizieren den Blick auf Einstellungen, Verhalten und professionelles Selbstverst?ndnis von Lehrkr?ften im Spannungsfeld von vorgegebenen Verfahren der Leistungsbewertung und der Sanktionierung. Angestrebte oder anzustrebende Inklusionsorientierung erscheint in dieser Hinsicht als Dilemma. Die vorliegende qualitative Studie fragt vor diesem Hintergrund danach, wie sich gymnasiale Lehrkr?fte mit ?Inklusionserfahrung? zu Prinzip und System der Leistungsbewertung positionieren. Konkurrenzhafte Leistungsan- und -abforderung stehen dabei in einem theoretischen und logischen Widerspruch zur Entfaltung von individuellen Leistungspotenzialen. In diesem Kontext werden fallbeispielhaft die Positionierungen zweier Lehrkr?fte zur Frage der (Nicht-)Versetzung und damit verbundenen ?Abschulung? eines Sch?lers im Kontext der Zeugniskonferenz am Schuljahresende kontrastiert. Im Sinne eines ableismustheoretischen Verst?ndnisses setzen sich die Autor*innen mit der unaufl?sbar erscheinenden wechselseitigen Verschr?nkung von einerseits inklusionsmotivierten kritischen Perspektiven auf F?higkeitserwartungen und andererseits der Reproduktion von F?higkeitserwartungen auseinander. Konstruktive Perspektiven aus diesem Dilemma k?nnten in Fortbildungen gewonnen werden, wie sie aus dem Verbundprojekt ReLink heraus entwickelt wurden. Sie zielen in besonderer Weise auf die Nutzung von Reflexionsr?umen.
Caroline Sahli Lozano, Jakob Schnell und Kathrin Brandenberg fragen nach der Einsch?tzung der integrativen Ma?nahmen Nachteilsausgleiche (NAG) und reduzierte individuelle Lernziele (RILZ) aus der Perspektive von Schulleitungen der Oberstufe im Kanton Bern (Schweiz). Die Schulleitungen wurden zu wahrgenommenen Chancen und Risiken der beiden Ma?nahmen befragt. Dabei zeigte sich, dass der Nachteilsausgleich im Hinblick auf die individuelle Entwicklung der Lernenden grunds?tzlich positiver wahrgenommen wird als die Reduktion von Lernzielen. Die Schulleitungen sind sich der Dilemmata zwischen F?rdern, Etikettierung und Leistungsbeurteilung resp. in Bezug auf die Ungleichbehandlung einzelner Lernender im Kontext von Chancengleichheit stark bewusst.
Ewald Feyerer zeichnet ein Bild von der gegenw?rtigen Verfassung der Lehrer*innenfortbildung f?r eine inklusive Schule in ?sterreich. W?hrend die grunds?tzliche Bedeutung der Lehramtsausbildung f?r positive inklusionsorientierte Entwicklungen zumindest theoretisch erkannt ist, ger?t der Bereich der Fortbildung wissenschaftlich und empirisch gerade hinsichtlich ihrer kurz- und mittelfristigen Bedeutsamkeit vergleichsweise seltener in den Fokus der Aufmerksamkeit. Der vorliegende Artikel thematisiert empirisch und mit Beispielen, wie in ?sterreich inklusionsorientierte Lehrer*innenfortbildung, unter Einschluss aller an p?dagogischen Prozessen Beteiligten gestaltet ist. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Einbindung von Menschen mit Beeintr?chtigungen als Role-Models. Der Beitrag m?ndet in zukunftsweisende Empfehlungen f?r Bildungspolitik und Schulen in ?sterreich.
Den Abschluss bildet ein Beitrag von Hans Wocken, der sich kritisch mit der Beobachtung auseinandersetzt, dass auf die bestehende bildungspolitische Realit?t von Teilen der Inklusionsforschenden mit einer bildungstheoretischen Wendung reagiert wird, die den grundlegenden Anspruch, der mit Inklusion verbunden ist, weitgehend aush?hlt. Aus einer gesamtgesellschaftlichen, zumindest das Bildungssystem als Ganzes umfassenden, Herausforderung werden so partikular gedachte ?Inklusive Momente?. Dieses diskutierte Konstrukt verfehlt Hans Wocken zufolge wesentliche Aspekte, die den Kern inklusiver Bildungsprozesse ausmachen, wie die Dialektik der Wechselbeziehungen zwischen Teilhabe und Teilgabe, die Einbeziehung der Strukturebenen, in denen sich Bildungsprozesse vollziehen sowie das unhintergehbare Vertrauen in die Bildbarkeit aller Menschen durch konsequente individualisierte Zuwendung im Rahmen eines ziel- und abgebotsdifferenten Unterrichts.
Eine aufschlussreiche und ergiebige Lekt?re w?nschen
f?r das Redaktionsteam
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck