1-2019
Sehr geehrte Leserinnen und Leser,
Sie erhalten hiermit Zugang zur ersten Ausgabe von Inklusion-Online im Jahr 2019. wir haben uns diesmal entschieden, einen neugierigen Blick auf die Fragen zu werfen, die sich jungen Wissenschaftler*innen im Kontext der Inklusionsforschung aktuell stellen und den Nachwuchs gebeten, aus seinen Forschungszusammenh?ngen zu berichten ? auch vor dem Hintergrund des Eindrucks, dass den empirischen Befunden und wissenschaftlichen Erkenntnissen der Inklusionsforschung seitens der Akteure in Politik und Praxis bisweilen zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Einen Schwerpunkt bildet dabei der analytische Blick auf spezifische Verh?ltnisse im kanadischen Schulsystem.
Lukas Doleschal und Anne Welslau stellen eine Studie an kanadischen Schulen vor. Dabei geht es um M?glichkeiten der Pr?vention und Intervention von Bullying (Mobbing) in schulischen Kontexten. Die Befunde verweisen auf den Zusammen-hang zwischen dem Ph?nomen und den strukturell-organisatorisch vorgegebenen Verh?ltnissen in Unterricht, Schule und sozialer Lebenswelt. Daraus k?nnen gegebenenfalls Schl?sse zu einer inklusionsorientierten und demokratischen Schulgestaltung, auch mit Blick auf die Verh?ltnisse in Deutschland, gezogen werden. Die Autor*innen entwickeln zun?chst einen theoretischen Bezugsrahmen f?r das Ph?nomen Bullying als ?soziales Interaktionsgef?ge in der (Zwangs)Gemein-schaft Schulklasse? unter Rahmenbedingungen, die durch spezifische Kontexte vor Ort bis auf die Ebene der Gemeinde und Nachbarschaft gepr?gt sind. Befragt wurden kanadische Lehrkr?fte zu den auf Bullying bezogenen und an den Schulen etablierten Methoden und Programmen. Die vielf?ltige Tradition in Kanada, Bullying pr?ventiv zu begegnen wird anhand zweier Schulen vorgestellt.
Johanna Ingenerf und Julian Zimmermann behalten den Blick auf kanadische Verh?ltnisse bei und analysieren interdisziplin?re Kommunikation im Unterricht auf Basis von Analysen in einer Schule in New Brunswicks. Gedanklicher Ausgangspunkt ist die ?berzeugung, dass die Bereitschaft und F?higkeit zur transprofessionellen Zusammenarbeit eine unverzichtbare Voraussetzung gelingende schulische Inklusion ist. In ihrem Beitrag nehmen die Autor*innen das Schulsystem der kanadischen Provinz New Brunswick unter Einbezug der Educational Governance Forschung in den Fokus, das bereits h?ufiger im international vergleichenden Inklusionsdiskurs zum Gegenstand der Betrachtung und Auseinandersetzung wurde. Mit der professionellen Zusammenarbeit ist dort keine getrennte Zust?ndigkeit f?r unterschiedliche Sch?ler*innen verbunden, was der sonderp?dagogischen Expertise eine im Vergleich zum Bildungssystem in Deutschland v?llig unterschiedliche Funktion und Bedeutung zukommen l?sst. Die Provinz New Brunswick zeichnet sich durch ein Schulsystem aus, in dem auf schulische Aussonderung jeglicher Art konsequent verzichtet wird. Wie dies in der Praxis des Unterrichtsalltags zu professionellen Herausforderungen f?hrt und wie diesen durch die professionell handelnden und miteinander interagierenden Akteure begegnet wird, dar?ber geben die Befunde zweier Expertinneninterviews Auskunft.
Auch Marie-Sophie R?der und Iris Schweizer haben kanadische Verh?ltnisse im Auge. Sie berichten von Beobachtungen, die sie auf einer 2w?chigen studentischen Exkursion nach Toronto und in die Provinz New Brunswick machen konnten. Dabei ging es nicht in erster Linie um Fragen der Vergleichbarkeit und ?bertragbarkeit von strukturell-organisatorischen oder praktischen Verh?ltnissen auf ein selektierendes Schulsystem, wie es nach wie vor in den deutschen Bundesl?ndern ?berwiegt, sondern um eine kritisch-reflektierende und produktiv-irritierende Beobachtung. Aus studentischer Sicht stehen dabei die M?glichkeiten und Grenzen der Erkenntnisgewinnung im Vordergrund sowie Erfahrungen, theoretische Zielsetzungen, bildungspolitische Rahmenbedingungen und p?dagogische Praxis vor Augen gef?hrt zu bekommen und aufeinander beziehen zu k?nnen. Dabei nutzt dieser Beitrag die Systematik des Index f?r Inklusion und geht speziell auf Beobachtungen rund um inklusive Kulturen, Strukturen und Praktiken ein, welche die Autorinnen w?hrend und nach der Exkursion als Irritationen und Frageanl?sse besch?ftigten.
Jacquelin Kluge von der Universit?t Bielefeld stellt die Befunde ihrer Masterarbeit vor. Im Zentrum steht die Frage, was es f?r gegenw?rtig und zuk?nftig Studierende bedeutet, wenn sich Rolle und Funktion der Profession Sonderp?dagogik angesichts eines sich inklusionsorientiert ver?ndernden Schul- und Unterrichtssettings ver?ndern und weiterentwickeln. Inwiefern provozieren die ver?nderten Rahmenbedingungen und bildungspolitischen Zielsetzungen das Professionsverst?ndnis von Studierenden der Sonderp?dagogik? Die qualitative Studie der Frage nach, welches Verst?ndnis Studierende des Studiengangs ?Integrierte Sonderp?dagogik? an der Universit?t Bielefeld von der Rolle sowie den Aufgaben der Sonderp?dagogik in inklusiven Settings haben. Die Ergebnisse der Befragung von f?nf Studierenden werden vorgestellt sowie im Hinblick auf die Professionalisierung in der universit?ren Lehrer*innenausbildung diskutiert. Unter inklusiven Settings werden Schulen oder Schulklassen verstanden, in welchen alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Somit liegt der Studie ein weiter Inklusionsbegriff zugrunde, der unterschiedliche Heterogenit?tsdimensionen im Blick beh?lt.
Auch Alina Quante analysiert im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Universit?t Bielefeld exemplarisch, wie eine Lehrkraft Gemeinsamen Unterricht bei bestehendem Unterst?tzungsbedarf im Bereich emotionaler und sozialer Entwicklung gestaltet. Die Herausforderungen (Bedenken und Vorbehalte) sind in diesem Feld nach Aussagen von Lehrkr?ften besonders gro?. Unter Bezugnahme auf theoretische sowie empirische Erkenntnisse sollen daraus praxisnah umsetzbare konzeptionelle und didaktische Handlungsempfehlungen abgeleitet werden. Grundlage ist die strukturierte Unterrichtsbeobachtung einer Grundschulklasse mit einem Sch?ler, der Unterst?tzungsbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung attestiert bekommen hat.
Abschlie?end befasst sich Mirko Moll mit den unterschiedlichen Diskursen, in denen das Cochlea-Implantat jeweils unterschiedlich verhandelt wird. Dabei lassen sich widerspr?chliche, irritierende und provozierende Effekte feststellen, die Wirkungsweisen und Funktion von Cochlea-Implantaten aus einer inklusionstheoretischen Sicht auf den Pr?fstand stellen. Cochlea-Implantate erscheinen so nicht ohne Weiteres als technischer Beitrag zur (Wieder)Herstellung oder Erm?glichung gesellschaftlicher Teilhabe, vielmehr ist das Versprechen einer Normalisierung verbunden mit der stillschweigenden Hinnahme bestehender Inklusions-Exklusionsbedingungen. Mirko Moll fragt in seiner Abschlussarbeit aus einer techniksoziologischen Perspektive nach den materiellen und diskursiven Rahmungen, in denen CI-H?ren situiert ist und die zu ungewissen Wirkungen und vielf?ltigen Nutzungsweisen auf Seiten der Tr?ger*innen f?hren.
Wir w?nschen Ihnen eine anregende Lekt?re
Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck
f?r die Redaktion von Inklusion-Online