1-2020

Meike Penkwitt, Annette Textor, Sina-Mareen K?hler:

Editorial zur Ausgabe ?Anerkennung in Beziehungen ? Didaktische Perspektiven?

"Handlungsf?hige Subjekte verdanken der Erfahrung der wechselseitigen Anerkennung die M?glichkeit, eine positive Selbstbeziehung auszubilden; ihr praktisches Ich ist, weil es nur aus der Perspektive der zustimmenden Reaktionspartner sich selber zu vertrauen und zu achten lernt, auf intersubjektive Beziehungen angewiesen, in denen es Anerkennung zu erfahren vermag." (Honneth 1990, 1044.)
"Das Selbst existiert nur in seinen und durch seine Beziehungen zu den anderen." (Todorov 1995, 170)

Anerkennung in Beziehungen zu erfahren, gilt als Voraussetzung f?r die gelungene Identit?tsentwicklung inklusive positiver Selbstbez?ge (vgl. u.a. Honneth 1990; 1992). Bereits klassische p?dagogische Schriften widmen sich dieser Thematik und verbinden diese beispielsweise mit Grundfragen zur gesellschaftlichen Integration und den p?dagogischen Selbstverh?ltnissen (vgl. Prengel 2013b).
Vor dem Hintergrund der zunehmenden Auseinandersetzung mit schulischer Inklusion und bezogen auf diese werden anerkennungstheoretische Ans?tze und damit verbundene Fragestellungen in den Erziehungswissenschaften seit fast zwei Jahrzehnten verst?rkt aufgegriffen und weiterentwickelt (z.B. von Katzenbach 2010 oder Prengel 2013b). Einen zentralen Bezugspunkt in dieser Debatte stellt die Anerkennungstheorie Honneths dar, die u.a. unter R?ckgriff auf das Fr?hwerk Hegels, den symbolischen Interaktionismus Meads und die psychoanalytische Objektbeziehungstheorie Winnicots reziproke Akte der Anerkennung als Voraussetzung einer gelungenen Identit?tsentwicklung in den Fokus r?ckt. Daneben k?nnen auch gesellschaftliche Dynamiken anerkennungstheoretisch erkl?rt werden, n?mlich als ?K?mpfe? um Anerkennung, die auf Erfahrungen der Missachtung gr?nden (vgl. Honneth, 1990, 1052 ff.).
Honneth unterscheidet drei Formen von Anerkennung und darauf bezogen auch drei Missachtungsformen, denen im Laufe der Sozialisation Bedeutung zukommt: zun?chst die emotionale Zuwendung, affektive Zustimmung oder auch 'Liebe' im Rahmen von Prim?rbeziehungen (Familie; sp?ter z.B. aber auch Freundschaften und Paarbeziehungen) (1); kognitive Achtung im Rahmen von Rechtsverh?ltnissen (2) und schlie?lich Solidarit?t oder auch soziale Wertsch?tzung, insbesondere in Bezug auf individuelle Beitr?ge zum Gemeinwohl einer Wertegemeinschaft (3) (vgl. Honneth 1990, 1992). Mit diesen drei Anerkennungsweisen korrespondieren wie folgt spezifische Missachtungsformen: mit der emotionalen Zuwendung Misshandlungen, Vergewaltigung und Folter, mit der kognitiven Achtung Entrechtung und Ausschlie?ung und mit der sozialen Wertsch?tzung schlie?lich Entw?rdigung und Beleidigung. Im Laufe der Individuation resultieren aus den unterschiedlichen Formen von Anerkennung zudem drei unterschiedliche Formen praktischer Selbstbeziehung bzw. positiver Selbstverh?ltnisse: Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstsch?tzung bzw. Selbstverwirklichung.
Daneben gibt es ? u.a. im Anschluss an Butler ? Entw?rfe, in denen Anerkennung nicht als affirmativ-bejahend und damit unterst?tzend verstanden wird, sondern umfassender als eine Adressierung im Sinne von Althussers Konzept der Anrufung/Interpellation. Da diese Adressierung unter Bezugnahme auf normative Diskurse erfolgt (Balzer/Ricken 2010), werden in solchen Ans?tzen auch negative, weil festschreibende (oder auch 'verdinglichende') Aspekte eines 'Anerkennens als' herausgearbeitet (vgl. z.B. Mecheril 2005, Bedorf 2010 und Balzer 2014). Andere Ans?tze stellen diesem festschreibenden 'Anerkennen als' ein entwicklungsoffeneres Anerkennen gegen?ber, das so z.B. die im Laufe des Heranwachsens von Kindern jeweils erst noch zu erreichende Autonomie antizipiert (Stojanov 2006; 2011). Unter dem Titel Verkennende Anerkennung weist Bedorf (im Anschluss an Derrida und L?vinas) dar?ber hinaus darauf hin, dass jedes Anerkennen zugleich auch schon ein Verkennen impliziere, indem es den Anderen nie wirklich 'angemessen' in seiner Andersheit entsprechen k?nne.
Humanistische Ans?tze arbeiten demgegen?ber weniger mit dem Begriff 'Anerkennung', es lassen sich aber Bezugspunkte und Parallelen finden: So definiert beispielsweise Rogers 'Akzeptanz' als eine nicht an Bedingungen gekn?pfte positive Wertsch?tzung ? d.h. eine spezifische Form von Anerkennung ? in Verbindung mit Empathie und Kongruenz als eine wesentliche Grundlage insbesondere professioneller Beziehungen (z.B. Rogers, 1989, S. 35; Rogers, 1994, S. 481f., Tausch und Tausch, 1998, S. 118 ff., vgl. auch Graf und Iwers in dieser Ausgabe).
'Anerkennung' stellt, so wird deutlich, ?kein[en] monolithische[n] Begriff" (Bedorf 2010, 97) dar. Einen Einblick in die Bedeutungsvielfalt des Anerkennungsbegriffs gibt Bedorf in seiner Studie Verkennende Anerkennung (2010) oder auch Balzer in Spuren der Anerkennung (2014). Unterschiedliche Einteilungsversuche wurden vorgeschlagen, um die vielf?ltigen und teilweise auch widerspr?chlichen Anerkennungsans?tze zu systematisieren. Einen solchen stellt die Unterteilung in ontologische, in deskriptive (d.h. lediglich beschreibende) und in ethische Herangehensweisen (Ik?heimo 2009) dar. Diese ist jedoch nicht kritiklos geblieben (Balzer 2014, 577): Zwar ist z.B. Honneths Anerkennungsansatz insofern (prim?r) als ethisch zu betrachten, als dass Honneth ?hnlich wie auch Taylor Anerkennung als ?'etwas' auffasst, das das Leben menschlicher Wesen verbessert" (Balzer 2014, 576). Gleichzeitig ist er aber auch ontologisch, denn zugrunde liegt dieser Auffassung der Entwurf eines ontologischen Modells, in dem die reziproke Anerkennung als eine allgemeine gesellschaftliche Infrastruktur beschrieben wird, die im Laufe der Individuation die Entwicklung positiver Selbstbeziehungen erm?gliche (ebd.). ?hnliche Schwierigkeiten ergeben sich f?r die Einordnung des Ansatzes von Butler, die ausgehend von ihrer ontologischen Beschreibung der Subjektivierung durch Adressierung und Re-Adressierung durchaus auch ethische Argumentationen aus differenz- und alterit?tstheoretischer Perspektive thematisiert (vgl. Balzer 2014, 577). Als tragf?higer erscheint demgegen?ber eine Unterscheidung, die auf Bedorf zur?ckgeht: Er unterscheidet zwischen intersubjektiven, interkulturellen und subjektivierenden Anerkennungsans?tzen. Erstere fokussieren im Sinne von Honneth auf die Herausbildung personeller Integrit?t durch die soziale Infrastruktur wechselseitiger Anerkennung. Als interkulturell bezeichnet Bedorf Ans?tze, in denen es, wie z.B. bei Taylor und Fanon, um das Miteinander unterschiedlicher Kulturen (und den Erhalt deren jeweiliger Authentizit?t) geht. Subjektivierende Anerkennungsans?tze, wie sie z.B. Butler (vgl. u.a. Butler 1993/1997) und im Anschluss an diese u.a. Balzer und Ricken (Balzer/Ricken 2010) vertreten, gehen davon aus, dass nicht bereits bestehende Subjekte sich gegenseitig (oder auch einseitig) Anerkennung entgegenbringen oder auch nicht, sondern, dass die Subjekte durch einen lediglich adressierenden (und nicht unbedingt wertsch?tzenden) Akt der Anerkennung ?berhaupt erst konstituiert werden. In diesem Sinne unterscheidet Balzer eine konstativ best?tigende von einer performativ stiftenden Seite von Anerkennung (Balzer 2014, 589).
Im Bereich der P?dagogik lassen sich zudem grunds?tzlich zwei unterschiedliche Arten von Ans?tzen unterscheiden, in denen das Konzept der Anerkennung im Zentrum steht: Im Kontext unterschiedlicher Differenzp?dagogiken spielt Anerkennung insofern eine zentrale Rolle, als dass die (jeweils) Anderen nicht nur als gleichberechtigt geachtet werden, sondern auch in ihrer jeweiligen Andersheit anerkannt und darum nicht zur Angleichung verpflichtet, also nicht normalisiert werden. Einen solchen Zugang hat z.B. Prengel (1993a) in ihrer Auseinandersetzung mit der integrativen, der feministischen und der interkulturellen P?dagogik herausgearbeitet. In der P?dagogik der Anerkennung (u.a. Scherr und andere) geht es hingegen darum, dass Anerkennung in allen p?dagogischen Kontexten und Beziehungen eine tragende Rolle zugesprochen bekommt (vgl. u.a. Hafeneger, Henkenborg, Scherr 2013).
Als auch interdisziplin?rer g?ltiger Minimalkonsens l?sst sich herausarbeiten, dass Anerkennung ?als etwas thematisiert und verstanden wird, das mit der Genese und/oder der Aufrechterhaltung von Subjektivit?t und Identit?t eng verbunden und f?r diese unverzichtbar ist? (Balzer 2014, 276), als ein Akt, ?... in dem eine/ein Adressierende/r einer/einem Anderen 'anzeigt' oder 'spiegelt', wer diese/r 'in seinen Augen' ? im Verh?ltnis zu sich und/oder Anderen und/oder Normen sowie zu Anderem (einer Sache) ? 'ist, so dass Anerkennung auch als eine (evaluativ spezifische oder unspezifische) 'Bedeutungsanzeige' qua Adressierung zu begreifen w?re? (Balzer 2014, 584). Grundlegend ist also, dass Menschen in ihrer Identit?t und Subjektivit?t nicht als voneinander unabh?ngig oder auch autonom gedacht werden.
Eine solche Sichtweise, ?die das Selbst als ein in einem Netz von Beziehungen mit anderen eingebettetes Wesen begreift" (Benhabib 1989, 456), wurde interessanterweise auch von feministischen Theoretiker*innen der sp?ten 1980er- und fr?hen 1990er-Jahre vertreten. Im Rahmen der Debatte um unterschiedliche Ans?tze einer feministischen Ethik im Anschluss an Carol Gilligan (Gilligan 1982/1988) setzten diese der 'patriarchalen' Ethik der Gerechtigkeit bzw. der Rechte eine 'feministische' Ethik der F?rsorge und Verantwortung entgegen (Nagl-Docekal und Pauer Studer 1993). Kritisierte wurde dabei insbesondere eine Vorstellung vom Menschen als prim?r autonom und beziehungslos, wie sie insbesondere f?r herk?mmliche Sozialvertragstheorien charakteristisch ist. Die Kritikerinnen wendeten sich gegen die Vorstellung, dass Menschen erst durch einen freiwilligen Abschluss eines Gesellschaftsvertrages, der den 'Krieg aller gegen alle' (Hobbes ? 1588-1679) verhindern solle, miteinander in Beziehung tr?ten. Sehr bildlich veranschaulicht Benhabib die Absurdit?t dieser Vorstellung ausgehend von einer (ebenfalls von Hobbes stammenden) Beschreibung des 'Naturzustandes', der dem Abschluss des Gesellschaftsvertrages vorausgehe. Sie zitiert Hobbes: "Betrachten wir die Menschen (men) ... als ob sie eben jetzt aus der Erde gesprie?t und gleich Pilzen pl?tzlich ohne irgendeine Beziehung zueinander gereift w?ren." (Hobbes 1966, 109, zit, nach Benhabib 1989, 464) Dieser Vergleich von Menschen (oder auch M?nnern) mit Pilzen[1] stellt, wie Benhabib ausf?hrt, ?ein vollendetes Bild der Autonomie" (ebd.) dar, das die Mutter durch die Erde ersetze und nicht nur das Geborenwerden, sondern auch die Abh?ngigkeit leugne, die insbesondere f?r die Zeit des Heranwachsens so charakteristisch ist. Honneth hat auf die Parallele in der feministischen Moraldiskussion immerhin in einer Fu?note bereits hingewiesen, ist ihr aber nicht weiter nachgegangen (Honneth 1994, 9). Umgekehrt spricht Young von Honneths anerkennungstheoretischen Ausf?hrungen als "Axel Honneths Feminism" (2010). Zusammenh?nge mit der sp?teren Gender-Theoriebildung sind dar?ber schon alleine durch die Bezugnahme auf die f?r die Gender und Queer Studies zentrale Theoretikerin Butler offensichtlich. Dar?ber hinaus l?sst sich Anerkennung im Sinne subjektivierender Anerkennungsans?tze auch als interaktives und performatives Doing im Sinne der ebenfalls f?r den Genderkontext wichtigen, ethnomethodologisch fundierten Konzepte des doing gender (Zimmermann und West 1987) und doing difference (Fenstermaker und West 1995) charakterisieren.
Anerkennung findet in Beziehungen statt und ist Teil von Beziehungen. Mit 'Beziehungen' sind in dieser Ausgabe 'soziale', 'zwischenmenschliche? oder 'pers?nliche' Relationen gemeint (vgl. Lenz und Nestmann 2009). Die Verbindungen zwischen organisationalen Einheiten, wie sie bspw. im Kontext der Etablierung der UN-Behindertenrechtskonvention auf globaler und nationaler Ebene analysiert werden (bspw. Schuster, Kolleck und J?rgens 2019), spielen zwar ebenfalls eine zentrale Rolle, bilden aber nicht den Schwerpunkt dieser Ausgabe. Die enorme Breite des Spektrums von Ans?tzen, die sich zwischenmenschlichen Beziehungen widmen, f?hrt Prengel in ihrer 2013 erschienenen Studie P?dagogische Beziehungen zwischen Anerkennung, Verletzung und Ambivalenz (Prengel 2013b) vor Augen. Sie geht dabei sowohl auf unterschiedliche relationentheoretische Ans?tze innerhalb der Erziehungswissenschaften ein, blickt vor allem aber auch ?ber den Tellerrand hinaus und stellt beziehungstheoretische Ans?tze aus der Philosophie, der Sozialphilosophie, den Sozialwissenschaften, der Sozialpsychologie, der Psychoanalyse, der Entwicklungspsychologie sowie bed?rfnistheoretische und salutogenetische Herangehensweisen vor und macht deutlich, dass diese wichtige Bezugspunkte f?r die Erziehungswissenschaften darstellen k?nnen. Dass es ebenfalls ein sehr breites Spektrum gibt, was die Qualit?t oder auch F?rderlichkeit von Beziehungen betrifft, macht sie dabei mit dem Titel des Buches deutlich.
Deutlich normativer sind didaktische Ans?tze: Eine nicht an Bedingungen gekn?pfte positive Wertsch?tzung aller Sch?lerinnen und Sch?ler sowie ein achtsamer Umgang mit sozialen Beziehungen z?hlen beispielsweise zu den zentralen Leitlinien einer inklusiven Didaktik (vgl. Kullmann u.a. 2014; Textor 2015a). Dies gilt auch f?r eine nicht spezifisch auf Inklusion ausgerichtete Didaktik (vgl. z.B. Textor 2015b, 121). Im Kontext der 'P?dagogik der Vielfalt' (Prengel 1993) wird Anerkennung als konstitutive Komponente 'egalit?rer Differenz' und 'guten Unterrichts' (vgl. u.a. Meyer 2013) konzipiert, was wiederum die Beziehungen in den Fokus r?ckt ? sowohl die Beziehungen zwischen der Lehrkraft und den Sch?ler*innen als auch die Beziehungen zwischen den Sch?ler*innen untereinander.
In dieser Ausgabe werden unterschiedliche theoretische Perspektiven auf Anerkennung in sozialen Beziehungen im schulischen Unterricht vorgestellt und diskutiert. In der zweiten von uns herausgegebenen Ausgabe zum Thema 'Anerkennung und Beziehungen' wird dann der Ertrag dieser Perspektiven f?r eine Didaktik, die sich auf die Spezifika inklusiver Lerngruppen bezieht, entwickelt und reflektiert.
In Auseinandersetzung mit unterschiedlichen relationentheoretischen Ans?tzen innerhalb der P?dagogik arbeitet Annedore Prengel die "existentielle Bedeutung der Qualit?t p?dagogischer Beziehungen f?r Entwicklung, Lernen und Sozialisation" heraus. Im Anschluss an eine Sondierung einer Reihe ausgew?hlter p?dagogisch-professioneller Ethikkodizes auf die Ber?cksichtigung ethisch fundierten p?dagogischen Konzeptionen f?hrt sie vor Augen, dass hier bisher noch ein erheblicher Mangel zu konstatieren ist. Vor diesem Hintergrund stellt Prengel die Reckahner Reflektionen vor, die sich ganz gezielt diesem Desidarat zuwenden. Von empirischen Beobachtungen ausgehend formulierten hier Expert*innen aus Bildungspraxis, -verwaltung, -politik und -wissenschaft zehn Leitlinien mit dem Ziel einer Verbesserung p?dagogischer Beziehungen. Abschlie?end verdeutlich sie deren Relevanz insbesondere auch f?r inklusionsp?dagogische Kontexte im Sinne der P?dagogik der Vielfalt.
Der Beitrag von Kersten Reich verweist dezidiert auf die Notwendigkeit einer konstruktiven Vermittlung der Inhalts- mit der Beziehungsseite in schulischen Lehr-Lernprozessen. W?rde der Beziehungsseite mehr Raum gegeben, so w?re ein lernf?rderliches Arbeitsklima in Schule und Unterricht gut m?glich. In drei Kapiteln wird aus einer gesellschaftskritischen Perspektive mit vorrangigem Bezug auf das deutsche Schul- und Bildungssystem die Trennung der Inhalts- und Beziehungsseite umfassend nachgezeichnet. Dabei wird verdeutlicht, dass ? historisch gewachsen ? die emotionale Grundbildung an die prim?re familiale Sozialisation gebunden ist und der schulischen Sozialisation, letztendlich auch durch die organisatorische Verfasstheit von Schule, die vorrangige Vermittlung disziplin?r gebundener Inhalte obliegt. Davon ausgehend bildet das vierte Kapitel eine deutliche Kritik der Lehramtsausbildung selbst, die das Schwergewicht auf die fachwissenschaftlichen Inhalte lege und die p?dagogische Beziehung vernachl?ssige. F?r Kersten Reich sind Partizipation, Kommunikation und Kooperation die entscheidenden S?ulen f?r gelungene schulische Lern- und Bildungsprozesse in einer modernen von Verschiedenheit gepr?gten Gesellschaft.
Ebenfalls eine kritische Perspektive entwickelt Nicole Balzer. In ihrem Beitrag wendet sie sich gegen ein Verst?ndnis von Heterogenit?t, das die individuell verschiedenen Lern- und Leistungsdispositionen diagnostiziert und davon ausgehend die Unterrichtsgestaltung vornimmt. Dem entgegen setzt sie im Anschluss an Stojanov die Notwendigkeit einer Anerkennung gleicher Entwicklungs-, Bildungs- und Autonomisierungsf?higkeit und r?ckt die Wandelbarbeit als Bezugspunkt f?r p?dagogische Anerkennungsbeziehungen in den Vordergrund. Vorbereitet werden die einzelnen Argumentationslinien durch eine systematische Nachzeichnung der Diskurse um Anerkennung von Heterogenit?t in der p?dagogischen Beziehung. Dabei arbeitet Balzer sowohl den Bedeutungsgehalt der Anerkennung von Heterogenit?t als auch der Anerkennung von Gleichheit heraus. Bezugspunkte bilden dabei Anerkennungspostulate, die u.a. im Rahmen von Ans?tzen zur individuellen F?rderung oder einer P?dagogik der Vielfalt formuliert werden.
Sowohl Markus Dederichals auchMai-Anh Bogeranalysieren die Ambivalenz von Anerkennungsprozessen. Markus Dederich fragt nach Implikationen eines normativ bzw. ethisch orientierten Begriffs von Anerkennung. Dabei setzt er unter Bezugnahme auf Butler den Begriff der Vulnerabilit?t zentral und untersucht, inwiefern unterschiedliche Konzepte von Vulnerabilit?t mit Prozessen von Anerkennung in Wechselwirkung stehen. Diese ?berlegungen werden mit Bezug auf Levinas erg?nzt durch Ausf?hrungen zu Subjektivierung und ethischer Gewalt; hier wird die Relevanz von Beziehungen zu Anderen in Anerkennungsprozessen deutlich. Schlie?lich werden Schlussfolgerungen f?r die Inklusion abgeleitet und dabei betont, dass Anerkennung ?keineswegs ausschlie?lich als soziales, p?dagogisches und politisches Antidot zu Verletzungserfahrungen zu sehen ist?, sondern vielmehr auch ein erhebliches Verletzungspotenzial birgt.
Im Zentrum des Beitrages von Mai-Anh Boger stehen drei Praxisbeispiele f?r das Aporetische und Riskante von Anerkennung in p?dagogischen Handlungszusammenh?ngen. Ausgew?hlt wurden Beispiele, die sich zum einen auf die drei Achsen der Theorie der trilemmatischen Inklusion beziehen und zum anderen auf die Differenzkategorien gender, race und disablity. Anhand der einzelnen Praxisbeispiele wird vor dem Hintergrund des gabentheoretischen Verst?ndnisses von Anerkennung nach Bedorf das Spannungsverh?ltnis wechselseitiger Anerkennung in ihrer (riskanten) Bedeutungsvielfalt aufgezeigt. Gleichfalls wird deutlich, dass niemals alle drei Pole des Trilemmas ? Empowerment, Dekonstruktion und Normalisierung ? gleichzeitig ber?cksichtigt werden k?nnen. Somit grenzt sich Boger stringent von einer zweistelligen Figur der (Ent)Dramatisierung von Anerkennungsprozessen ab. Ihre Argumentation schlie?t mit einer kritischen Einsch?tzung der Verwendbarkeit anerkennungstheoretischer Ans?tze f?r die p?dagogische Theoriebildung und Praxis und tritt konsequent daf?r ein, die Perspektive derjenigen, f?r die ein Begehren nach Anerkennung postuliert wird, als argumentativen Ausgangspunkt f?r p?dagogisches Handeln zu setzen.
Ulrike Graf und Telse Iwers gehen dem Thema 'Anerkennung und Wertsch?tzung' innerhalb unterschiedlicher Traditionslinien der Humanistischen P?dagogik nach. So zeigen sie die Bedeutung von Anerkennung und Wertsch?tzung im Rahmen der dialogischen Philosophie Martin Bubers, in der Themenzentrierten Interaktion Ruth Cohns sowie in der auf Carl Rogers beruhenden personenzentrierten Psychologie auf. Dar?ber hinaus reflektieren sie die Rolle von Wertsch?tzung und Anerkennung in Thomas Gordons theoretischem Modell der Selbstkonzeptentwicklung (bekannt sind diesbez?glich vor allem die Konzepte 'Lehrer-Sch?ler-'  und 'Familienkonferenz') sowie im Rahmen des Gestaltansatzes von Fritz Perls (mit dem zentralen Konzept 'Awareness') und schlie?lich im Kontext von Achtsamkeitsans?tzen, die aktuell stark en vogue sind. Letztere bezeichnen Graf und Iwers zwar als eine eigenst?ndige Herangehensweise, weshalb sie ihnen auch ein eigenes Kapitel widmen. Diese wurzele aber in den zuvor bereits dargestellten Ans?tzen, woraus auch deren Anschlussf?higkeit an die Humanistische P?dagogik resultiert. Als gemeinsamen Kern aller vorgestellten Herangehensweisen arbeiten die Autorinnen erstens die ? nicht nur f?r den Aufsatz zentrale ? Kategorie 'Wertsch?tzung'  (d.h. ein normativ orientiertes Verst?ndnis von 'Anerkennung') sowie zweitens eine Orientierung an der gesamten Person, einschlie?lich deren Leiblichkeit und damit verbunden an der Achtsamkeit allem Lebendigen gegen?ber und am Hier und Jetzt heraus. Im Anschluss gehen Graf und Iwers der Frage nach, was die Humanistische P?dagogik zur Gestaltung der aktuellen Entwicklungen oder auch Herausforderungen von Migration und Digitalisierung beizutragen vermag.
Mit diesen sechs Beitr?gen werden p?dagogische Anerkennungsbeziehungen ? unter Bezugnahme auf unterschiedliche Gegenst?nde und Grundlagentheorien thematisiert. Gleichwohl zeigen sich ?bergreifende Thematisierungslinien, z.B. Anerkennung als spannungsreiches Beziehungselement oder als Ausgangspunkt von Bildung im Sinne der autonomen Subjektentwicklung.
Wir danken den Autor*innen und Gutachter*innen f?r die angenehme und produktive Zusammenarbeit im Rahmen unserer Herausgeberinnenschaft und auch f?r ihre Geduld angesichts der leichten Verz?gerung des Erscheinens dieser Ausgabe. Unser Dank gilt dar?ber hinaus Dieter Katzenbach, insbesondere auch f?r sein Vertrauen, uns die Herausgeberinnenschaft zu ?bertragen, sowie dem Redaktionsteam der Zeitschrift f?r Inklusion online.net ? ganz besonders Herrn Frank J. M?ller, der die Texte f?r das Einstellen im Netz finalisiert hat. Und schlie?lich danken wir Burak Sen, der f?r alle Texte gewissenhaft die Schlusskorrektur ?bernommen hat.

 

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[1] Biologisch gesehen ist das Bild mit den Pilzen ohnehin nicht korrekt: Bei den z.B. oberhalb der Erdoberfl?che sichtbaren ?Pilzen? handelt es sich lediglich um die Fruchtk?rper eines viel gr??eren Organismus. Der Pilz selbst besteht im Wesentlichen aus dem Myzel, das sich z.B. in der Erde befindet und h?ufig mit anderen Pilzmyzelen vernetzt ist. Einige Pilze leben auch in Symbiose mit Pflanzen. Die Vorstellung, dass es sich bei den 'Pilzen'  um autonome, quasi aus dem Nichts entsprungene Organismen handele, ist also biologisch grundlegend falsch, ?hnlich wie die Vorstellung von der vermeintlichen Autonomie der M?nner/Menschen. Letztlich passt das Bild der M?nner/Menschen als Pilzen darum dann vielleicht gerade deshalb doch: nicht jedoch zur Veranschaulichung von deren Autonomie, sondern stattdessen vielmehr von deren tats?chlicher Abh?ngigkeit oder auch f?r die Verdeutlichung der Illusion von Autonomie bei einer tats?chlichen Abh?ngigkeit.
Veröffentlicht: 01.03.2020