Aktuelle Ausgabe

1-2021

Liebe Leser*innen von Inklusion-Online,
wir freuen uns an Ihrem Interesse an unserer Online-Zeitschrift f?r Inklusion, der 1. Ausgabe im Jahr 2021.
Immer noch pr?gen Gegenwart und Folgen der Pandemie viele der aktuellen Debatten um die Gestaltung einer zukunftsf?higen Politik, etwa mit Blick auf die Entwicklung sozialer Ungleichheiten in der Gesellschaft oder die coronabedingt offen zutage getretenen ungleichen Zug?nge zu Bildung. Nicht selten werden diese Debatten auch angstbesetzt gef?hrt. Unabh?ngig von den kurzfristig f?r uns alle sp?rbaren unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie kann dabei ? und das mag eine ihrer positiveren Effekte sein ? ein verst?rktes Interesse an der Diskussion von mittel- und langfristigen Strategien festgestellt werden, die sich an der Gestaltung einer lebenswerten Zukunft in einer offenen Gesellschaft orientieren wollen und bew?hren sollen. Die Thematik der ?Inklusion? steht dabei f?r die Frage, wie ?wir? angesichts der vielf?ltigen Differenzen und Verschiedenheiten in Zukunft zusammenleben k?nnen und wollen.
Adornos gesellschaftsutopisches Diktum, ?ohne Angst verschieden sein? zu k?nnen, ist da eine gut bekannte und h?ufig zitierte Formulierung, die Gabriel Zellmer Anlass bietet, aktuelle Inklusionsdiskurse auf ihren gesellschaftskritischen Anspruch hin zu durchleuchten. Er fragt kritisch nach, inwieweit in den oft vordergr?ndigen Bezugnahmen auf Adorno sich wirklich die Bereitschaft erkennen l?sst, die bestehenden Verh?ltnisse, in denen wir uns stets und unweigerlich in unserem Alltagshandeln wie auch professionell bewegen, in Frage stellen zu wollen. Stattdessen erweist sich die begriffliche Selbstbedienung aus dem Zitatenschatz kritischer Theorie allzu h?ufig als willf?hriges Werkzeug, praxisbezogene Probleme symptomatisch anzugehen. Der Beitrag erhebt den Anspruch, Kritik am durchgesetzten Begriffsverst?ndnis der Individualit?t zu ?ben, die Gesellschaftskritik der Kritischen Theorie ernst zu nehmen und deren Element des Kritischen f?r eine intervenierende Praxis stark zu machen. Dabei, so Gabriel Zellmer, kann gezeigt werden, ?inwiefern Individualit?t als Ideologie fungiert und welche Vorschl?ge die Kritische Theorie hat, um dahingehend einzugreifen?.
Andreas K?pfer, Katharina Papke und Yannick Zobel befassen sich mit dem Verh?ltnis von Ratgeberliteratur und p?dagogischem Handeln im Umgang mit Autismus, wie er sich im Kontext inklusionsorientierter Bildungsans?tze finden l?sst. Auff?llig ist, dass in inklusionsorientierten Diskursen zwar einerseits h?ufig auf die Vielfalt des Autismusspektrums verwiesen wird, andererseits die steigenden Diagnoseraten aber selten mit Zweifeln an deren Angemessenheit verbunden sind, gerade wenn es um p?dagogische oder didaktische Konsequenzen geht. Den Autor*innen geht es u.a. darum, die Herstellung und Reproduktion der Kategorie Autismus empirisch nachzuverfolgen. Dies geschieht auf Basis einer Situationsanalyse, die sich methodisch an Clarke (2012) anlehnt. Im Fokus stehen einerseits Ratgeberliteraturen f?r die p?dagogische, unterrichtliche und didaktische Praxis sowie andererseits Interviewdaten, die im BMBF-gef?rderten Forschungsprojekt ?StiEL? erhoben wurden. Erst eine kritische Rekonstruktion und Dekonstruktion der Begrifflichkeit ?Autismus? mit ihren ambivalenten und auch medizinisch gepr?gten Konnotationen erlaubt es, die p?dagogische und didaktische Wirkm?chtigkeit in der (Unterrichts)Praxis zu erkennen und inklusionstheoretisch fundiert zu hinterfragen.
Einem anderen Thema, das inklusionsorientierten Unterricht in p?dagogischer und didaktischer Hinsicht zunehmend kennzeichnet, widmet sich Hendrik Trescher in seinem Beitrag zu Leichter Sprache. Dabei, so seine Feststellung, gehen die inzwischen erkennbaren Benefits der Verwendung Leichter Sprache in der p?dagogischen Handlungspraxis gerade f?r Menschen, denen Lernschwierigkeiten attestiert wurden, einher mit einer theoretischen Ausarbeitung, die diesen Entwicklungen kaum standzuhalten vermag. Denn Leichte Sprache ? in der Praxis oft eher verfolgte ?Idee? als fundiertes Konzept ? birgt Ambivalenzen und ihre Verwendung stellt als solches noch keine Garantie f?r gelingende Integration oder gar die Inklusion von Menschen mit Lernschwierigkeiten dar. ?Eine zentrale Problematik liegt dabei darin, dass durch Leichte Sprache zwar Teilhabem?glichkeiten er?ffnet, gleichzeitig jedoch eingeschr?nkt werden k?nnen, indem die durch Leichte Sprache adressierten Personen als ?unterst?tzungsbed?rftig? und dadurch letztlich ?behindert? gelabelt werden.? Auf Basis bisher bestehender empirischer Erkenntnisse wird im vorliegenden Beitrag versucht, Perspektiven einer theoretischen Fundierung Leichter Sprache zu entwerfen.  
Der Beitrag von Andrea Fischer-Tahir und Anke Langner wendet sich Fragen der beruflichen Inklusion von Menschen mit Sehsch?digung zu. Den gesellschaftstheoretischen Kontext bildet der Stand der Digitalisierung in einer kapitalistisch organisierten und strukturierten Welt, was sich etwa in Praktiken der Anpassung an eine sogenannte Industrie 4.0 zeigt. Dabei zeigt sich, dass jegliches Nachdenken ?ber berufliche Inklusion untrennbar mit einer gesellschaftstheoretisch informierten Analyse verbunden sein muss, will es sich nicht mit punktuellen Integrationserfolgen begn?gen. Der Beitrag fokussiert anhand einer Fallgeschichte die Erfahrung der Subjekte, die im Kontext von digitaler Transformation der Arbeitswelten ihre eigenen Kategorien von Arbeit, Gesundheit und Identit?t neu verhandeln. ?Dabei wird der Frage nachgegangen, inwiefern Disziplin als ein sich ?ber diverse Kontrolltechniken realisierendes Machtverh?ltnis in der beruflichen Inklusion wirksam wird und wie das von Exklusion bedrohte Subjekt reagiert, wenn Expert*innen sein Feld des m?glichen Handelns strukturieren?. Die Autorinnen interessiert, wie Bildungsangebote aus der Perspektive der Subjekte gedeutet werden, deren erkl?rtes Ziel es ist, Menschen mit Sehsch?digung an Arbeit teilhaben zu lassen. Diese Deutung enth?lt allemal ein ambivalentes Element ? d.h., selbst gelingende Inklusion f?hrt nicht zur Aufhebung von Exklusion. Ma?nahmen beruflicher Inklusion stehen daher durchaus im Dienst der ?Normalisierung einer digitalen Klassengesellschaf, zu deren Entstehung die neoliberale Governmentalit?t beigetragen hat?.
Christian Sch?ttler verfolgt den Ansatz Gemeinsamen Lernens am gemeinsamen Gegenstand im Mathematikunterricht. Untersucht wird, inwieweit mit dieser Methode unterschiedliche Lernvoraussetzungen von Sch?ler*innen f?r wechselseitige und einander unterst?tzende Lernprozesse fruchtbar gemacht werden k?nnen. Gemeinsames Lernen am gemeinsamen Gegenstand soll dabei wirkliche Kooperation f?rdern. Dazu werden anhand von exemplarischen Szenen kollektive Arbeitsprozesse diskutiert und sozial-kommunikative Interaktionsstrukturen rekonstruiert.
Abschlie?end werfen Julia Frohn und Vera Moser einen Blick auf die inklusionsorientierte Lehrkr?ftebildung. Auf Basis einer Befragung unter den Lehrkr?ftebildungszentren an Universit?ten in Deutschland, die im Sommersemester 2020 durchgef?hrt wurde,werden bildungspolitische Entwicklungen und der Stand der Anwendung der ?Gemeinsamen Empfehlung von Hochschulrektorenkonferenz und Kulturministerkonferenz? aus dem Jahr 2015 einer kritischen Betrachtung unterzogen. Die dort anvisierte und grundgelegte ?Lehrerbildung f?r eine Schule der Vielfalt? ist zwar als Anspruch artikuliert, inwiefern dies jedoch seither in einer ver?nderten Bildungslandschaft Niederschlag gefunden hat, ist eine empirische Frage. Wie sind die Steuerungsprozesse von Bildungssystemen in ihrem Zusammenwirken von institutionellen Rahmenbedingungen, praktisch handelnden Professionellen und den ihnen zur Verf?gung stehenden methodischen Angeboten zu beurteilen? Der im Beitrag skizzierte Ansatz hinterfragt die Annahme der Wirkm?chtigkeit linearer Steuerungsmechanismen und geht stattdessen von individuellen Handlungsbedingungen aus, in denen sich die verantwortlichen Akteure in ihren Vernetzungen und Verstrickungen bewegen. Auf dieser theoretischen Grundlage wurden als relevante Akteure f?r die Implementierung inklusionsbezogener Studieninhalte in die lehrerbildenden Studieng?nge die Zentren f?r Lehrkr?ftebildung befragt.

Eine interessante und gewinnbringende Lekt?re w?nschen
Im Namen des Redaktionsteams

Carmen Dorrance und Clemens Dannenbeck

Veröffentlicht: 11.05.2021
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